Frankfurt: Corona beschäftigt die Justiz

Oberlandesgericht muss über Soforthilfen und die Impfung von Kindern entscheiden. 20 Prozent mehr Verfahren 2020 im Vergleich zum Vorjahr.
Gegen das Coronavirus lässt sich viel Schlechtes sagen, und das zu Recht. Aber immerhin sorgt es für frischen Wind bei der Justiz – auch weil derzeit die Sitzungssäle regelmäßig belüftet werden müssen.
Auf der jährlichen Bilanzpressekonferenz des Frankfurter Oberlandesgerichts (OLG) macht dessen Präsident Roman Poseck am Donnerstag einen tiefenentspannten und gut gelüfteten Eindruck. Und das nicht nur, weil die Zeiten der Homejustice erst einmal perdu und die Mitarbeiter seit Anfang dieses Monats wieder zur Präsenzpflicht verdonnert sind. Sondern auch, weil das Geschäft brummt. „Trotz Corona hat das OLG im vergangenen Jahr 6900 Zivilverfahren erledigt. Das ist ein absoluter Spitzenwert und gegenüber dem Vorjahr mit 6050 erledigten Verfahren noch einmal eine Steigerung um 20 Prozent“, freut sich Poseck.
Obwohl sich die Frage stellt, ob es „trotz“ oder „wegen“ heißen muss. Denn „Corona prägt nicht nur die Rahmenbedingungen für die Durchführung der Verfahren“, von denen etliche schriftlich oder per Video erledigt wurden. „Die Pandemie bringt den Gerichten auch zahlreiche neue Verfahren.“
Besonders beliebt sind dabei Streitigkeiten wegen der Inanspruchnahme von Betriebsschließungsversicherungen (vergangenes Jahr zwei, dieses Jahr bereits 34 Fälle) und Auseinandersetzungen wegen Mietkürzungen bei Gewerberäumen, die während des Lockdowns nicht wie geplant genutzt werden konnten. Das ist freilich eher spröde Materie. Es geht auch prickelnder.
Im nächsten Monat etwa wird das Gericht eine Wettbewerbssache verhandeln, bei der der Verkäufer einer Mund- und Rachenspülung diese als „Corona-Prophylaxe“ anpreist. Auch nicht schlecht sind die Beschwerden vor allem von Angeklagten aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität, die bei Prozessen in den von einigen Gerichten wegen der Seuche aufgestellten Leichtbauhallen Fußfesseln tragen müssen. Bislang hatten diese Klagen keinen Erfolg, weil das OLG der Auffassung ist, dass mit der Notwendigkeit des Lüftens auch immer die Gefahr des Verduftens verbunden ist.
Vor allem aber stehen die Familiensenate des OLG vor völlig neuen Aufgaben. Beschwerden von Quereltern, die gegen Maskenzwang und Abstandspflicht in Schulen klagen, mehren sich. Immer wieder taucht die Frage auf, ob Corona-Soforthilfen bei der Unterhaltsberechnung zu berücksichtigen seien (sind sie nicht).
Unlängst musste das OLG eine Sorgerechtsentscheidung fällen und einer Mutter untersagen, mit ihrem Kind nach Nicaragua zu fliegen, weil es die Meinung des Vaters teilte, der das zu gefährlich fand. Bereits im vergangenen Jahr urteilte das OLG, dass eine Mutter dem Vater wegen der Seuche nicht den Umgang mit seinem Kind verbieten könne – der Vater hatte lediglich mit dem Kind telefonieren und es auf dem Balkon angucken dürfen.
Interessant wird es, wenn Eltern sich uneinig sind, ob sie ihr Kind impfen lassen sollen. Das kommt häufiger vor. So etwa im Fall eines 2018 geborenen Kindes, dessen Eltern das gemeinschaftliche Sorgerecht ausüben. Die Mutter will das Kind impfen lassen, der Vater nicht. Die Mutter hatte daraufhin am Amtsgericht die Entscheidungsbefugnis über Standardimpfungen beantragt, der Vater eine gerichtliche Überprüfung der Impffähigkeit des Kindes verlangt.
Das Amtsgericht hatte der Mutter recht gegeben, die vom Vater eingereichte Beschwerde wies das OLG ab: Bei Impfdisputen der Eltern solle die Entscheidungsbefugnis auf den Elternteil übertragen werden, der den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission folgt.
Noch interessanter wird es, wenn Eltern einem willigen Kind aus Angst, es an Bill Gates zu verlieren, die Impfung verbieten – und das Kind dagegen klagt. Hier müsste das Gericht die „Einsichtsfähigkeit“ des Minderjährigen prüfen, der in einem solchen Fall gute Erfolgsaussichten hätte. Solch einen Fall gab es bislang noch nicht. Aber dass er kommen wird, ist eher eine Frage der Zeit.