1. Startseite
  2. Frankfurt

Familienhistorie als Zeitgeschichte

Erstellt:

Kommentare

In dunklen Zeiten jung gewesen.
In dunklen Zeiten jung gewesen. © AFP

Die Eltern von Nikolaus Münster waren ein merkwürdiges Paar. Über die beiden hat der Sohn das Buch „Das lange Schweigen. Zwischen Widerstand und Lebenshunger“ geschrieben. Die FR druckt einen Auszug daraus.

Lilly ist ein Knaller, eine wahrlich besondere Frau. Sie versteht sich als emanzipiert und tut viel dafür, ihren eigenen Weg zu gehen. Stärke zeigen und sich auch gegenüber dominanten Menschen zu behaupten, das beherrscht sie hervorragend. Schwäche – ihre eigene und die der anderen – verachtet sie. In dieser Hinsicht ist sie von der nationalsozialistischen Geisteshaltung der Dreißiger- und Vierzigerjahre geprägt. Als sie sich im zarten Alter von 88 Jahren einen Oberschenkelhalsbruch zuzieht, wehrt sie sich zunächst heftig dagegen, mit dem Krankentransport ins Hospital gefahren zu werden. „Die paar Schritte werde ich ja wohl noch selber gehen können. Was sollen denn die Nachbarn denken, wenn ich hier rausgetragen werde!“ Typisch Lilly.

Ihr fester Wille, die Freuden des Lebens unbedingt auszukosten, lässt sie stets als selbstbewusste Frau agieren. Der klaren Ansage ihres Vaters, heiraten dürfe sie erst, wenn das Studium abgeschlossen sei, entzieht sie sich, indem sie ein möglichst kurzes Studium wählt und Kieferorthopädin wird. Für Politik interessiert sie sich nicht. Von den Gräueltaten und dem Terror der Nazis will sie nichts wissen. 1940 bekommt sie einen unehelichen Sohn von einem führenden nationalsozialistischen Frauenarzt. Der Kindsvater verspricht ihr, sie zu heiraten, lässt dem aber keine Taten folgen, da seine Frau einer Scheidung nicht zustimmt. Eine schwierige Situation für Lilly: unverheiratet und ein uneheliches Kind.

Ihren Gegenpart und Ehemann findet sie drei Jahre später in Arnold Münster, der im Widerstand war und acht Jahre Zuchthaus verbüßt hat. Der Dominanz des starken Ehemannes widersetzt sie sich. Sie betreibt zielstrebig eine kieferorthopädische Praxis, die jedoch erst in den Sechzigerjahren so erfolgreich ist, dass sie von ihrem Mann wirtschaftlich unabhängig wird, nicht mehr um das Haushaltsgeld verhandeln muss und sich sogar ein eigenes Auto kaufen kann, einen lindgrünen VW-Käfer. Ein deutliches Zeichen ihrer Unabhängigkeit.

Ihr Leben lang versucht sie, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen. Ihre unbändige Lebenslust und Neugier bewahrt sie sich bis ins hohe Alter. Noch mit Ende 80 unternimmt sie auf eigene Faust eine Autoreise nach Polen. Schnittige Sportcoupés erfreuen ihr Herz, attraktiven Männern ist sie nie abgeneigt, und die wöchentlichen Mittagessen mit ihrer besten Freundin Annelies bei dem Nobel-Italiener in der Frankfurter Innenstadt sind legendär. Das Personal begrüßt die beiden betagten Frauen stets mit italienischem Charme: „Buon giorno! Die schönsten Frauen Frankfurts.“ Sie nehmen die Empfehlungen des Tages, zu denen stets eine Flasche Schampus und ein italienischer Weißwein hervorragend passen. Beschwingt von köstlichem Essen, angeregter und lästernder Unterhaltung und ein wenig beschwipst verlassen sie das Lokal und schwingen sich in ein Taxi – dem Mittagsschlaf entgegen.

Lilly weiß immer, was gut und was fein ist: Champagner, Hummer und Kaviar. Kein runder Geburtstag ohne diese Insignien der gehobenen Gesellschaft. Um dem kleinen, acht Jahre jüngeren Bruder Hans auch im fortgeschrittenen Alter einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben, schenkt sie ihm zu seinem 70. Geburtstag eine große Dose Kaviar. Dass er diese mit seiner Familie teilt und nicht alleine verspeist, verübelt sie ihm als kleinbürgerliches Verhalten.

Von starken Persönlichkeiten lässt sie sich gerne faszinieren. Der Vater ihres ersten Sohnes ist der charismatische Leiter der Heidelberger Frauenklinik, ihr Mann Arnold eine herausragende wissenschaftliche und kulturelle Persönlichkeit. Sie liebt die polternde Art des Literaturkritikers Reich-Ranicki und besucht gerne seine Vorträge. Obwohl immer treue CDU-Wählerin nimmt sie nach dem Tod ihres Mannes Arnold an Kundgebungen mit Joschka Fischer – dem damaligen Spitzenkandidaten der Grünen – teil und lässt sich begeistern.

Von Kindesbeinen an ist Lilly es gewohnt, mit hochgestellten Persönlichkeiten zu verkehren. Sie liebt das und versteht sich darin auch sehr gut. Sie geht bei der Familie des Generaldirektors der Bismarckhütte ein und aus, sie verkehrt auf Empfehlung des von ihr verehrten Onkels Ludwig Curtius in den Gelehrtenkreisen der Heidelberger Universität, und nach dem Krieg besteht der Freundeskreis von Arnold und Lilly aus herausragenden Wissenschaftlern und Führungskräften der Wirtschaft.

Großen Wert legt sie darauf, sich zu verhalten, comme il faut. Diese Karte spielt sie gerne, und sie ist eine Meisterin darin, im richtigen Moment den richtigen Satz zu platzieren. Als kulturliebende und gebildete Frau verfügt sie über ein breit gefächertes Wissen und ein ebensolches Halbwissen – mit beidem hantiert sie sehr geschickt. Ihr selbstbewusstes Auftreten ist aber auch begleitet von einer gewissen Bescheidenheit. Anerkennung oder Lob kann sie gar nicht verknusen.

Um ihr eigenes aufregendes Leben macht sie nie viel Aufhebens und erzählt darüber kaum etwas. Wir Söhne werden lediglich mit einem Strauß von Anekdoten abgespeist, die die Verhältnisse nicht erklären, sondern eher mystifizieren. Auf das Drängen von uns hin schreibt sie dann doch im hohen Alter einige Seiten nieder, mit deren Hilfe sich manche Zusammenhänge herstellen und klären lassen.

DAS BUCH

Arnold Münster wird 1935 vom NS-Regime

zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Für ihn ist es eine Zeit der Demütigungen und der Folter.

Obwohl seine Frau Lilly und er das Leben

in der jungen Bundesrepublik genießen,

herrscht im Hause Münster ein „ohrenbetäubendes Schweigen“. Nach Arnolds Tod im Jahr 1990

nutzt sein Sohn Nikolaus den umfassenden

Nachlass für „Das lange Schweigen. Zwischen Widerstand und Lebenshunger“. Das Buch über die Eltern bietet einen sehr persönlichen Blick auf den Nationalsozialismus und die widersprüchliche Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. FR

Arnold ist ein Kopf. Analytisches Denken vor allem in der Naturwissenschaft und Musik ist seine Leidenschaft. Sein Gedächtnis lässt Bewunderung aufkommen, wenn er ein Gedicht nach ein- bis zweimaligem Lesen auswendig rezitieren kann. Er hat ein aufbegehrendes, stürmisches Temperament und bewegt sich zwischen krankheitsbedingter extremer Zurückgezogenheit und ausschweifendem Leben. Tiefe Depression und überschwängliche Lebenslust sind ihm beide vertraut. Als Student entscheidet er sich nach einer kurzen Mitgliedschaft in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) für die kommunistischen Ideale und den Widerstand gegen das Hitlerregime. Es folgen 1935 die Verhaftung fast der gesamten Widerstandsgruppe und für ihn acht Jahre Zuchthaus unter dramatischen Umständen.

Dank der Begnadigung durch SS-Führer Heinrich Himmler überlebt er diese Zeit, muss aber anschließend noch in den Krieg ziehen. Vor seinem Einzug zur Ausbildung für das berüchtigte Bewährungsbataillon 999 trifft er in Frankfurt auf Lilly. Der Mann aus dem Widerstand verliebt sich nach acht Jahren Zuchthaus in eine Frau, die Judenverfolgung und Kriegstreiberei des Naziregimes ignoriert und ein Kind von einem nationalsozialistischen Frauenarzt hat, der führend mit der Umsetzung des Sterilisationsgesetzes von 1933 befasst ist. Er bittet Lilly um ihre Hand. Die Hochzeit findet 1944 in den rauchenden Trümmern Frankfurts statt.

Die Zeit im Zuchthaus kann ihn nicht brechen, aber sie hinterlässt ihre Spuren. Er bedeckt sie mit Schweigen, und dafür hat er viele Gründe. Nur zu gut weiß er, dass viele ehemalige Nazis in Dienst und Würden sind, mit ihren Netzwerken Macht ausüben und Menschen aus dem Widerstand weiterhin bekämpfen. Nach dem Krieg macht er eine steile Karriere als Naturwissenschaftler. Gleichzeitig ist er nun begierig, die Freuden des Lebens auszukosten, die ihm die verlorenen Jahre in Gefangenschaft und Krieg vorenthalten haben. Er liebt Lilly sehr, ist aber gut aussehenden Frauen gegenüber stets aufgeschlossen.

Seinem dominanten, autoritären Charakter kann Lilly meist erfolgreich die Stirn bieten. Sie ordnet sich nicht unter. Uns Kindern gegenüber nimmt er die Position des strengen, prinzipientreuen Vaters ein, der keinen Zweifel an seiner Autorität zulässt. Sein Lieblingsspruch lautet: „Quod licet Jovi, non licet bovi!“ – „Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Rindvieh noch lange nicht erlaubt!“

Auch wenn er die Zurückgezogenheit in seiner wissenschaftlichen Arbeit und seinem Klavierspiel mag, kann er in gesellschaftlichem Rahmen zu einer einnehmenden, geistvollen und charmanten Persönlichkeit aufblühen.

Er der große Denker und zu allem entschlossene Mann des Widerstands – sie die lebensfrohe Wegseherin, deren große Liebe ein Nazi-Frauenarzt ist. Diese Extreme kommen in den Kriegszeiten zusammen, lieben sich und meistern ein langes gemeinsames Leben. Von diesem Leben, von den menschlichen Dramen und den Glücksmomenten haben wir als Kinder und Jugendliche bis auf einige Rahmendaten wenig gewusst. Recht strikt haben die Eltern und insbesondere Arnold zwischen der kleinen Kinder- und der großen Erwachsenen-Welt getrennt. Wichtige Überlegungen, Planungen und Ereignisse gingen die Kinder nichts an. Die Vergangenheit wurde verdrängt und verschwiegen. Kaschiert wurde das mit aus dem Zusammenhang gerissenen Anekdoten, die mehr verdunkelten als erhellten.

Das konsequente Fernhalten aller bedeutenden Familienthemen hatte bei uns Brüdern mit der Zeit dazu geführt, dass wir weniger nachgefragt haben, weniger neugierig wurden und uns mit der Situation abgefunden haben. Als junge Erwachsene haben wir unsere Eltern dann doch wieder bedrängt, ihre Erinnerungen niederzulegen. Unser primäres Interesse galt der Widerstandsgeschichte Arnolds. Was hatte ihn dazu bewegt, wie hat er acht Jahre Zuchthaus unter den Nazis überlebt, wie dachte er später darüber? Von seiner bewundernswerten wissenschaftlichen Karriere hatten wir keine Kenntnis, weshalb sie uns wenig beschäftigte. Aber wir ahnten auch, dass sich hinter den Anekdoten Lillys viel verbarg, was der Überlieferung wert ist. Wie ist sie in Bismarckhütte aufgewachsen, wie hat sie die Scheidung ihrer Eltern erlebt, was für eine Persönlichkeit war eigentlich der von ihr immer verehrte Onkel Ludwig Curtius, und welche Rolle spielte er für sie? Wie hat sie über die Nazis gedacht, und wie hat sie sich in dieser Zeit verhalten? Was hatte es mit dem Vater unseres Halbbruders auf sich?

Aussicht auf Antworten auf diese Fragen gab es für uns nicht. Erst nach dem Tod von Lilly kam der Nachlass mit vielen Dokumenten auf uns zu. Ihn zu bearbeiten, erschien bei voller Berufstätigkeit zunächst unmöglich. Erst als zwei Wissenschaftler grundlegende Fakten über Arnolds Widerstand und seine wissenschaftliche Karriere zusammengetragen hatten und ich in Ruhestand gegangen war, öffnete sich das Tor zu einer vertieften Aufarbeitung. Es war ein aufregender Prozess, sich mit den Eltern auseinanderzusetzen und auch zu sehen, wie ihr Schicksal mit zahlreichen Personen der Zeitgeschichte verwoben ist. Die Familienhistorie gewährt durch die Protagonisten zudem einen persönlichen Blick auf große historische Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts: zwei Weltkriege, den Naziterror, die industrielle Massenvernichtung von Millionen von Menschen sowie den Wiederaufbau eines Landes und einer demokratischen Gesellschaft.

Lebenslustig und feierlaunig; Arnold und Lilly Münster in der Nachkriegszeit.
Lebenslustig und feierlaunig; Arnold und Lilly Münster in der Nachkriegszeit. © privat
DER AUTOR: Nikolaus Münster wurde 1951 in Frankfurt geboren. Von 1982 bis 1991 war Münster Redakteur der FAZ. 25 Jahre leitete er das Presse- und Informationsamt der Stadt. 2016 ging er in Rente.
DER AUTOR: Nikolaus Münster wurde 1951 in Frankfurt geboren. Von 1982 bis 1991 war Münster Redakteur der FAZ. 25 Jahre leitete er das Presse- und Informationsamt der Stadt. 2016 ging er in Rente. © Peter Juelich

Auch interessant

Kommentare