„Club Voltaire“-Gründerin Else Gromball – Ein Leben im Widerstand

Vor 60 Jahren gründete Else Gromball mit anderen den linken Treffpunkt „Club Voltaire“ in Frankfurt. Jetzt holen die Friedensaktivistin ihre Albträume vom Zweiten Weltkrieg wieder ein.
Frankfurt – Die Träume vom Krieg kehren zurück. Mit Macht. Immer wieder sind da die Bilder von der großen Hecke, in die sich Else Gromball flüchten will. Doch die Hecke ist so dicht, dass sie einfach nicht hineingelangt. „Ich kann nicht fliehen.“ Und die Tiefflieger kommen immer näher, nur wenige Meter über dem Boden.
Im Odenwald ist die damals Neunjährige gemeinsam mit ihrer Mutter Ende 1944 oft attackiert worden. Noch schlimmer war es zuvor im Frankfurter Gallusviertel, Bombenangriffe rund um die Uhr, Feuer, Zerstörung. „Wir kamen kaum noch aus dem Bunker raus“, erzählt sie. Jetzt, nach Ausbruch der Kämpfe in der Ukraine, holen die Träume vom Krieg die 86-Jährige wieder ein. Dabei hat sie doch ihr ganzes Leben lang für Frieden und Abrüstung gestritten, demonstriert.
Vor 60 Jahren gehörte Else Gromball in Frankfurt am Main zu einer Gruppe von jungen Menschen, die den linken Treffpunkt „Club Voltaire“ gründete. Er besteht heute noch.
Else Gromball aus Frankfurt: „Die Kriege haben nie aufgehört“
Und auch die Kriege sind noch da. „Die Kriege haben nie aufgehört“, sagt Gromball auf dem kleinen Balkon, von dem es nur wenige Schritte sind in einen idyllischen Bockenheimer Hausgarten. Dieser Satz hört sich keineswegs resigniert an, eher sachlich, wie eine Feststellung, beiläufig. 30 Jahre lang führte sie mit ihrem Lebensgefährten Heiner Halberstadt, der 2021 starb, den „Club Voltaire“. Schrieb dort ein Stück politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit unzähligen Diskussionen, Lesungen, musikalischen Auftritten. Alle kamen sie in den Club: der Sponti Daniel Cohn-Bendit, der Komponist Mikis Theodorakis, der Terrorist Andreas Baader, die Schriftstellerin Anna Seghers, die Schauspielerin Helene Weigel, die Sängerin Joan Baez, die militanten Black Panther aus den USA. Diese Liste könnte die langjährige Gastgeberin noch lange fortführen. Aber sie ist keine, die Eindruck schinden oder Wind machen möchte. Das entspricht nicht ihrem Auftreten, das eher zurückhaltend ist, obwohl sie so viel gesehen und erlebt hat.
1935 im Frankfurter Arbeiterviertel Gallus geboren, im „Kamerun“, wie es bei den Menschen dort hieß, vielleicht wegen des schwarzen Rußes, der sich im Industriequartier über alles legte. Die Tochter eines Monteurs erlebte schon 1943, dass der Schulunterricht ständig durch Sirenenalarm unterbrochen wurde. Die Kinder rannten in den Bunker, hörten dort unten das Pfeifen der Bomben, das Bersten und Krachen.
Else Gromball: „Lieber hungern in Frankfurt als auf dem Land bleiben“
Mutter und Tochter machten sich auf in den Odenwald, quer durch das Chaos halb zerstörter Städte und Ortschaften. „Ich weiß, was es heißt, zu flüchten“, sagt Gromball. In den Dörfern, in denen sie ankamen, waren sie „nicht willkommen“. Nach dem Zusammenbruch des Naziregimes sagte die Mutter: „Lieber hungern in Frankfurt als auf dem Land bleiben.“ Und so erlebte Else ihre Jugend in der stark zerstörten Stadt, in Schulklassen mit bis zu 60 Gleichaltrigen, in Lehrstellen im Bahnhofsviertel, etwa in einer Parfümerie: „Ich hab’ den Prostituierten ihren Schmuck repariert, wir hatten ein gutes Verhältnis.“
Die Jugendliche war Mitglied in der kommunistischen FDJ. Als die 1954 von der Bundesregierung unter Kanzler Konrad Adenauer verboten wurde, wechselte sie zu den sozialdemokratischen Falken. Dort lernte sie den Aktivisten Heiner Halberstadt kennen, bald waren die beiden ein Paar. Die politischen Ziele waren klar: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. Die beiden nahmen an den ersten Ostermärschen teil, gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, gegen die neue Bundeswehr, gegen Atomwaffen. „Die Ostermärsche führten damals drei Tage lang vom Spessart bei Wind und Wetter bis zum Frankfurter Römerberg.“ In den Dörfern, durch die sie zogen, schlossen die Bauern Haus und Hof und riefen: „Die Zigeuner kommen!“
Bis heute bleibt Gromball strikt bei ihrer Haltung gegen jede Aufrüstung. Das gelte auch für den Krieg in der Ukraine. Sie ist überzeugt: „Je mehr Waffen man liefert, desto mehr Tote wird es geben.“ Die Linke verurteilt den russischen Angriffskrieg. Aber sie wundert sich darüber, dass die frühere Kritik an der Ukraine jetzt in den Hintergrund tritt: „Das waren auch keine Friedensengel, sondern ein elender, korrupter Laden.“ Auf der Seite der Ukraine, daran erinnert sie, kämpften „rechte Söldner“. Auch die geplante Aufrüstung der Bundeswehr werde nur „zu einer weiteren Eskalation führen“. Die Friedensaktivistin sagt unmissverständlich: „Meine Hoffnung ist nach wie vor die Diplomatie.“
Frankfurt: „Club Voltaire“-Gründerin ist enttäuscht von Bundesregierung
Von der regierenden Ampelkoalition in der Bundeshauptstadt ist sie genauso enttäuscht wie von der Linken. „Sie haben nicht den Mut, zu widersprechen.“ Dass jetzt der linke Außenpolitiker Gregor Gysi Waffenlieferungen an die Ukraine fordert, lässt sie den Kopf schütteln: „Da kann ich nicht mitgehen.“ Nein, sie war natürlich wieder bei den diesjährigen Ostermärschen dabei. Sie hält es auch für falsch, dass die Bundesrepublik sich jetzt von Gaslieferungen durch das korrupte Regime im arabischen Katar abhängig mache: „Die führen auch Kriege.“ Und Bundespräsident Steinmeier dürfe sich nicht vom ukrainischen Botschafter „vorschreiben“ lassen, was zu tun sei.

Nein, Gromball wird ihr Leben im Widerspruch weiterleben. Sie denkt in diesen Tagen oft an die Zeit vor 60 Jahren zurück, als sie mit einer Gruppe junger Menschen ein Haus in Frankfurt suchte, in dem sie ungestört von der konservativen Adenauer-Regierung politischen Freiraum „für Veranstaltungen und Musik“ finden würden. Schon 1961 schauten sie sich das schmalbrüstige Gebäude Kleine Hochstraße 5 in der Frankfurter Innenstadt an, das aus dem 19. Jahrhundert stammte. Es beherbergte damals unter anderem den „Pudelsalon Wauwau“, der nach ihrer Erinnerung aber der verdeckten Prostitution diente.
1962 war es dann so weit: Die Gruppe eröffnete in dem Haus an der Kleinen Hochstraße den linken Treffpunkt „Club Voltaire“. Den Namen hatten Aktivist:innen der algerischen Befreiungsfront FNL vorgeschlagen, die damals in Frankfurt lebten und für die Unabhängigkeit der französischen Kolonie kämpften.
Frankfurt: „Club Voltaire“ war Anlaufpunkt für Geflüchtete aus aller Welt
„Es war eine Aufbruchszeit“, erinnert sich Gromball. Geld besaß die Gruppe nicht, man pumpte sich etwas, um wenigstens ein paar Stühle und Tische anzuschaffen. In den nächsten Jahrzehnten geriet der „Club Voltaire“ zum Anlaufpunkt für Geflüchtete aus aller Welt. Da waren die griechischen Emigrant:innen, die vor der Militärdiktatur flohen. Die Menschen aus dem Iran, die dem Schah-Regime entkommen wollten, oder die aus Spanien, die vor der Unterdrückung der Franco-Diktatur Schutz in Deutschland suchten. „Sie alle trafen sich bei uns.“
Der „Club Voltaire“ half aber auch US-Soldaten, die aus der Armee desertierten, weil sie nicht im Vietnam-Krieg kämpfen wollten. Gromball und Halberstadt unterstützten die Deserteure mit Geld und schleusten sie nach Skandinavien weiter, wo sie vor Auslieferung sicher waren. Aus Schweden kamen Postkarten derer an, denen die Flucht geglückt war.
So viele Szenen, so viele Erinnerungen. Der SPD-Oberbürgermeister Rudi Arndt ließ sich bei einer Diskussion im verrauchten Club zu der Bemerkung hinreißen, er würde am liebsten die Ruine der Frankfurter Oper sprengen – schon war die Legende vom „Dynamit-Rudi“ geboren. Der Komponist Mikis Theodorakis spielte am Klavier hinreißende griechische Freiheitslieder, Schauspieler des legendären „Berliner Ensembles“ wie Hilmar Thate tranken an der Bar ihr Bier. Überhaupt war es Halberstadt und Gromball wichtig, mit den Auftritten von DDR-Künstler:innen schon in den 60er Jahren ein Zeichen für eine neue Ostpolitik zu setzen.
Else Gromball aus Frankfurt: Es wäre falsch, russische Kunst zu boykottieren
Bis 1997 trug die Linke für den „Club“ Mitverantwortung, dann ging sie gleichsam in Rente. Aber ein politisch aktiver Mensch mit eigener Meinung ist Else Gromball bis heute geblieben. Aus ihrer langjährigen Erfahrung schaut sie auch voraus auf eine Zeit nach dem Ukraine-Krieg. Und sie hält es deshalb für falsch, jetzt die russische Kultur, russische Künstlerinnen und Künstler grundsätzlich zu boykottieren und von ihnen gleichsam Gesinnungsprüfungen zu verlangen. „Das erinnert mich an den Ausschuss für unamerikanische Umtriebe im US-Senat in den 50er Jahren.“
Nein, mit dem russischen Präsidenten Putin wird man nach ihrer Einschätzung „nicht verhandeln können“. Aber sie hofft darauf, dass das russische Volk selbst sich eines Tages des Diktators entledigen wird. Gromball gießt Kaffee ein, blickt in die grüne Idylle ihres Gartens und sagt: „Die Zeit nach dem Krieg wird kommen.“ Und den „Club Voltaire“, davon ist sie überzeugt, wird es weiter geben. (Claus-Jürgen Göpfert)