Ehemaliger Flüchtling bietet anderen Obdach in Frankfurt

Gennadi Tultschinetski kam 1991 aus Odessa als Flüchtling nach Deutschland, nun bietet er 120 Menschen aus der Ukraine eine Bleibe in seinen beiden Hotels.
Gennadi Tultschinetski ist gerne Gastgeber. „Ich mag es, wenn bei mir zu Hause viel los ist“, sagt der 53-Jährige. In seinen eigenen vier Wänden hält sich der gebürtige Ukrainer eigentlich nur noch zum Schlafen auf. Er ist die meiste Zeit in seinen Arena-Hotels an der Frankfurter Messe und im Ostend, um sich um die 120 Geflüchteten zu kümmern, denen er eine Bleibe gewährt hat. An seinem Hemd trägt Tultschinetski eine blau-gelbe Schleife. Auf dem Tresen der Rezeption im Hotel Arena am Zoo liegen mehrere Briefe der Stadt Frankfurt für die Gäste, die sich angemeldet und Sozialleistungen beantragt haben. Im Aufenthaltsraum gegenüber sitzen ukrainische Frauen und Kinder. Sie bereiten Essen zu, unterhalten sich oder spielen.
„Am 1. März sind die ersten bei mir angekommen“, sagt Tultschinetski bei einem Blick in seinen Computer. Eine Woche nach Beginn des russischen Angriffskriegs. Da gab es in der Stadt noch keine Notunterkünfte oder ein Erstaufnahmezentrum. „Mein Bruder, Freunde von ihm, andere Hoteliers und Bekannte haben Busse organisiert und zur polnischen und moldawischen Grenze geschickt, um die Leute dort abzuholen. Denn da herrschte Chaos“, berichtet Tultschinetski. Rund 1000 Menschen seien so in Frankfurt angekommen und auf die Hotels verteilt worden. Dass er den Menschen hilft, war für ihn selbstverständlich. „Ich habe sehr viel Angst in den Augen von jungen Frauen gesehen und weinende Kinder“, sagt er. In der Tiefgarage steht das Auto einer Geflüchteten aus Mariupol. Es hat zwei Schusslöcher. „Ich versuche, gute Laune zu verbreiten und den Menschen zu zeigen, dass sie willkommen sind“, sagt Tultschinetski. Es gibt jedoch Momente, wo er schlucken muss und ihm die Tränen in die Augen schießen. Ein Junge hat ihn mehrfach so innig umarmt, dass er ihn dabei nicht anschauen konnte. „Er hat Sehnsucht nach seinem Vater.“
Tultschinetski stammt aus Odessa. Im Dezember 1991 ist er als jüdischer Flüchtling nach Frankfurt gekommen. Der Vater einer erwachsenen Tochter arbeitete lange im Groß- und Außenhandel. Er verkaufte Werkzeuge und Baumaterialien in die Ukraine, nach Russland, China und in die Vereinigten Arabischen Emirate. 2008 stieg er ins Hotelgeschäft ein. „Da habe ich mich gefunden“, sagt er.
Statt Geschäfte zu machen, sieht er es als seine Pflicht an, seinen Landsleuten in der Not zu helfen. „Die Leute brauchen jemanden, mit denen sie in ihrer Sprache sprechen können“, sagt er. Seine Frau kümmert sich darum, Unterkunftsmöglichkeiten bei Privatpersonen zu finden. Denn das Hotel ist eigentlich nicht für einen Daueraufenthalt ausgelegt. Die Zimmer sind klein, es gibt keine Waschmaschinen und keine Küche. Für seine zahlenden Gäste hat er sonst immer ein kleines Frühstück angeboten. Das gibt es aber nicht mehr, da der Frühstücksraum zum Aufenthalts- und Kochraum umfunktioniert wurde. „Die meisten zeigen Verständnis, aber nicht alle“, erzählt Tultschinetski. Kombikocher, Mikrowelle und andere Küchengeräte wurden organisiert. Kochplatten sind aufgrund der Brandmeldeanlage nicht möglich. Trotzdem stieß er bei immer mehr Menschen, die ins Hotel kamen, an die Grenzen bei der Lebensmittelversorgung.
„Eine Woche nachdem die Geflüchteten hier waren, war meine Telefonnummer bekannt“, erzählt er. Neben Menschen, die sich nach konkreter Hilfe bei der Unterbringung von weiteren Geflüchteten meldeten, bekam er auch Anrufe von Leuten, die helfen wollten. Unter anderem kam eine Privatinitiative auf ihn zu, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Lebensmittelversorgung der Geflüchteten in Hotels zu übernehmen, die dort privat untergekommen sind. Seitdem kommen regelmäßig Großeinkäufe mit frischen Lebensmittel im Hotel an. „So viele nette und gute Leute wie in diesem Monat habe ich vielleicht in den letzten zehn oder 20 Jahren kennengelernt“, sagt Tultschinetski gerührt.
Die Stadt ist nun bereit, Lebensmittelgutscheine an diejenigen auszugeben, die noch keine Sozialhilfeleistungen empfangen. Eine entsprechende Nachricht hat eine der Helferinnen aus der Initiative bekommen. Tultschinetski hat selbst ein paar Mal mit der Stadt telefoniert, um an Informationen zu kommen. Mittlerweile hat er die dritte Auflage einer Handreichung mit den wichtigsten Fakten auf seinem Tresen liegen. Er hat in Aussicht gestellt bekommen, für diejenigen, die sich in Frankfurt registriert haben, auch rückwirkend Ausgleichszahlungen zu erhalten. Für das Geld habe er das aber nie getan. Dass der Staat manchmal langsam sei, habe er auch bei den Corona-Hilfen erlebt. Funktioniert hat es am Ende aber doch. So konnte er in die Digitalisierung investieren. Ein automatisches Check-in-System ist installiert.
„Ich begrüße die Gäste am liebsten persönlich“, sagt er. Vor rund einer Woche hat er seine Cousine, die letzte in der Ukraine lebende Verwandte nach Deutschland bringen können. Mit Freunden und Bekannten in der Heimat, zu denen er lange keinen Kontakt mehr hatte, tauscht er sich seit Kriegsbeginn regelmäßig aus. Er verfolgt die Nachrichten so gut es geht. Dass in Mykolajiw nun Pontonbrücken angelegt werden, erinnert ihn an seinen zweijährigen Wehrdienst, den er in Moldawien absolviert hat. „Wir haben diese Brücken zu Übungszwecken gebaut, jetzt werden sie im Krieg benötigt“, sagt Tultschinetski.
Er hofft, dass der Krieg so schnell wie möglich zu Ende geht. „Das ist aber keine Situation, die man so einfach abschalten kann.“ Deshalb wird der Hotelier, solange es nötig ist, Gastgeber für seine vorm Krieg geflohenen Landsleute sein.