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Die Stadt, die Kunst und der Müll in der Nacht

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Von: Jürgen Streicher

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Das „Antagon TheaterAKTion“ auf dem Römerberg spielt „Was bleibt, wenn nur noch Asche bleibt?“.
Das „Antagon TheaterAKTion“ auf dem Römerberg spielt „Was bleibt, wenn nur noch Asche bleibt?“. © Michael Schick

Zigtausende Menschen schwärmen durch die „Nacht der Museen“ in Frankfurt und Offenbach und hinterlassen Spuren.

Wenn man was sehen will, sieht man was.“ Die Museumsweisheit des Türwächters Aidoo gilt für den gesamten Kulturkosmos an diesem Abend, wenn der Blick auf Kunst an der Wand durch Menschen in Massen im Raum versperrt ist wie bei Städel und Schirn, Liebieghaus, MMK und anderen Museen. Aidoos Formel gilt auch für das vermeintliche Nichts, weil so wenig angeblich zu sehen ist und weil vor allem nicht der ganz normale Museumsnachtpunk abgeht wie an so vielen Plätzen. Sie könnte also ein gutes Mantra sein für den wilden Kulturritt durch die laue Nacht.

Die Paulskirche öffnet mit fünf Minuten Verspätung. Die Sicherheitsleute müssen sich noch mit der Polizei abstimmen, die mit einigen Autos am hohen Ort der politischen Kultur vorgefahren ist, am schlichten Eingang, ein paar Schritte entfernt vom schon jetzt brodelnden Römerberg, dem Kulminationspunkt dieser Nacht der Museen. „Vielleicht kommt ja der Bundespräsident“, sinniert ein Wartender. 175 Jahre Paulskirche, die Museumsnacht lädt zum Besuch des nationalen Denkmals ein.

In den heiligen Plenarsaal fällt das Licht der Abendsonne. Auch auf den Platz von Carl von Wrochen, Jurist, Gutsbesitzer, Landrat aus Preußen, in der hintersten Reihe. Heute sitzt da jemand anderes, gedämpfte Stimmen, es ist leise im Raum, der Geschichte schrieb.

„Wir machen jetzt die Führung durchs Goethe-Haus, hier ist nichts“, sagt eine Frau ins Handy. Der Schwung ist schnell dahin, fast alle flugs wieder draußen, das kulturelle Herz verlangt nach mehr als stiller Emotion und Kontemplation. Der Bundespräsident kommt nicht. Die erste Nationalversammlung und die lange Nacht der Revolution wird an anderen Orten inszeniert.

Man kann das alles gar nicht schaffen, schon gar nicht bei diesem Gedränge mit langen Warteschlangen schon vor Eintritt zu wunderbaren Kunsträumen, wenn man sich ordentlich anstellt und keinen VIP-Pass hat für die „Fast Lane“ ins Museum. Der über all die öden Corona-Jahre ausgehungerte Kulturmensch braucht neue Impulse. Es ist ein Strömen durch die Gassen und über Plätze, je später der Abend, umso mehr am Fluss entlang, am Museumsufer hin und her und auf beiden Seiten des Wassers. Die Partyzone wächst mit der Lust auf noch viel mehr davon, mit der Lust auf den Aufbruch in die Romantik mit geheimnisvollen Wegen, die nach innen führen.

Erstmals ist das noch junge Romantik-Museum mit Goethe nebenan dabei, die auf Einlass Wartenden formieren sich schnell vom Hirschgraben bis zum Kornmarkt. Ganz oben singen die Besucher:innen mit Sabine Kalmer und Bettina Rentsch das in einem KZ komponierte Protestlied von den „Moorsoldaten“, in der Goethe-Galerie inszeniert Katharina Schaaf als Bettina Brentano eine Theaterführung, beim Workshop „Zeichnen im Romantik-Garten“ skizzieren spontane Künstler:innen Faust und Gretchen und freihändig ohne hinzugucken über dem Garten schwebende Wolkenformationen oder, wie zwei junge Damen aus dem kunsthistorischen Seminar, gegenseitige Schnellporträts.

Wer in die Schirn will, muss um halb neun schon Zeit mitbringen, hitzeresistent sein und mit wenig Sauerstoff auskommen. Oben ist Niki de Saint Phalle dicht umlagert, schnell ein paar Handyfotos und nix wie weg, denn die Türwächter kennen kein Erbarmen, weder mit denen draußen noch drinnen. Sehr beliebt für Fotoshootings ist auch das Haus Goldene Waage bei der Schirn ums Eck. Über den Treppenturm geht’s zur Dachterrasse „Belvederchen“, wenn man einen Platz in der Führung hat, Kulisse fürs Foto sind der Dom und die Dächer der Altstadt mit Nachthimmel.

Herrlich die gechillte Atmosphäre im musealen Neuling. Sie wollten schon immer mal im zentralen Bankhaus ein bisschen swingen und schwoofen? Das geht in der schnuckeligen Bar im EZB-Erdgeschoss. Na gut, ein paar Hundert Quadratmeter oder mehr hat die schon und eine Raumhöhe von mindestens 20 Metern. Der Sound der ECB-Jungs aber, so heißt die Hausband mit Piano, Gitarre, Bass, Schlagzeug und Saxofon, ist perfekt. Es gibt spanischen Weißwein, coole Musik und eine Führung zu einem Teil der im Riesenareal sichtbaren 300 Kunstwerke. Da passt auch ein echter Thomas Bayrle rein, die 59 Panels mit „Frankfurters“ messen 480 mal 3250 Zentimeter. Bei der EZB hofft man schon auf eine Dauerkarte für die Museumsnacht, die Premiere Samstagnacht mit 1500 angemeldeten Gästen, die beim Einchecken eine Prozedur wie am Flughafen über sich ergehen lassen mussten, war vielversprechend.

Im Filmmuseum wird die Stunde vor Mitternacht eingeläutet, die Menschen enthemmt im wilden Tanz unter goldenen Puscheln an der Decke des Foyers, die Musik schneller und lauter und dazu Schwarz-Weiß-Bilder im Hintergrund aus den „Golden Twenties“ des 20. Jahrhunderts mit der passenden Endzeitstimmung, jetzt kommen langsam die Nachtvögel aufs Parkett. Das Publikum ist jung, hier gibt’s viel zu spielen, jeder dreht seinen Selfie-Film auf dem Balkon mit Blick auf Fluss und Skyline.

Die Städel-Hölle gibt den Rest, dichtes Gedränge im Bier- und Weingarten und auf der Treppe vor dem Haupteingang. Jeder will wohl den ruhenden Goethe auf seinem Sofa belästigen oder Kirchners Akt mit Hut betrachten, Klassiker sehen und „Italien vor Augen“ haben. Die Luft ist zum Schneiden dick, im Treppenhaus ist die Bezeichnung Höllenlärm schon fast ein Euphemismus. Draußen wird Kultur von Stunde zu Stunde mehr aus den Sinnen verdrängt, die Müllberge wachsen am Straßenrand, an Parkbänken, auf Plätzen und am Mainufer entlang, einzig Flaschensammler:innen freuen sich, der Rest ignoriert das.

Die Kirchturmglocken schlagen Mitternacht und auch beim Thema Müll trifft Aidoos Formel vom Sehen und Nichtsehen zu. „Wenn man was sehen will, sieht man was.“ Wir haben genug gesehen, den geplanten Mitternachtsbesuch im Kriminalmuseum verschieben wir. Auch vor dem Polizeipräsidium ist um halb eins noch die Hölle los.

Wer reitet da auf dem Pferd?
Wer reitet da auf dem Pferd? © Michael Schick
Aus der Sammlung von Maximilian von Goldschmidt-Rothschild.
Aus der Sammlung von Maximilian von Goldschmidt-Rothschild. © Michael Schick
Timcat und Merle (vorne) spielen Swingstücke mit modernen Beats.
Timcat und Merle (vorne) spielen Swingstücke mit modernen Beats. © Michael Schick
Die historische Straßenbahn durfte wieder fahren.
Die historische Straßenbahn durfte wieder fahren. © Michael Schick

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