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Die Sprengkraft der Zehntelsekunden

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Von: Claus-Jürgen Göpfert

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Der Künstler und Filmemacher Gunter Deller, der auch das Stadtteilkino Mal Sehn im Frankfurter Nordend betreibt.
Der Künstler und Filmemacher Gunter Deller, der auch das Stadtteilkino Mal Sehn im Frankfurter Nordend betreibt. © Monika Müller

Ein Besuch bei dem Regisseur, Fotografen und Kino-Programmmacher Gunter Deller.

Schnee steigt nach oben. Regenbogen überspannen Beton von Autobahnen. Splitterhaft blitzen Wasserflächen auf, fallende Tropfen schließen Bilder von Kunstwerken ein. Mäuse huschen abends über die Hauptwache. Menschen streunen durch nächtliche Straßen. In Zeitlupe dehnen sich Landschaften. Glas und Plastikmüll formen Strukturen. Die Filme und Fotografien von Gunter Deller bringen neue Erfahrungen des Sehens mit sich. Der 59-jährige zitiert gerne die Sätze des Philosophen Walter Benjamin, der 1935 im Pariser Exil schrieb: „Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt.“ Das ist sein Leitbild.

Ein Vormittag mit den Filmen und Bildern von Deller im Dunkel des „Mal Sehn“-Stadtteilkinos im Frankfurter Nordend. Seit 35 Jahren arbeitet der Künstler hier, macht Programm, zeigt ausgefallene Werke von Regisseurinnen und Regisseuren aus aller Welt. Er glaubt an das Überleben des Kinos auch inmitten der Bilderstürme des Internets. „Das Kinoerlebnis ist nicht ersetzbar.“ Der gebürtige Unterfranke weiß sich einig mit dem großen Kollegen Wim Wenders: „Wenn man das Kino abschaffen würde, wäre es in zwei Tagen neu erfunden.“ Vor seinem 60. Geburtstag ein Gespräch mit Deller, erst im Vorraum des Kinos, wo das Schmalzbrot noch zwei Euro kostet, dann vor der Leinwand.

Seine ersten Filme sah er in der Dorfkneipe seines Heimatortes Michelbach, der Hauptdarsteller war Mickey Mouse. Katholisches Elternhaus, katholisches Internat ab zwölf, die Priester erlaubten den Jungen einmal die Woche Fernsehen. Die Gottesdienste in der Kirche erinnern den Regisseur noch heute ans Kino: „Man zelebriert etwas, es besitzt sakralen Charakter, man bildet Aufmerksamkeit und Bewusstsein.“ Das Kino in Lohr am Main, wo das Gymnasium stand, wurde zum Sehnsuchtsort. „Nach der Schule trafen wir uns vor dem Schaukasten.“ Sein erster Film in Kino: Das könnte „King Kong“ (1976) von John Guillermin mit Jessica Lange in der weiblichen Hauptrolle gewesen sein. Zur Kommunion ging es mit den Eltern in die Oper nach Frankfurt, „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck: „Als die Engel in den Himmel aufstiegen und die Bühne sich zu öffnen schien, war ich total verzaubert.“

Im Alter von fünfzehn Jahren kaufte sich der Gymnasiast eine Super-8-Kamera und begann mit einem Freund, eigene Filme zu drehen. Ihre großen Idole waren Steven Spielberg, bald aber auch Rainer Werner Fassbinder und Akira Kurosawa. Große Faszination auf die Heranwachsenden übte „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ (1977) von Spielberg aus, der den Kontakt mit Außerirdischen zum Höhepunkt hat. Deller tauchte „zur Verzweiflung meiner Eltern“ im Aschaffenburger Hippie-Milieu unter. Vater und Mutter appellierten vergeblich: „Junge, geh doch zur Stadt!“ Ihr Sohn drehte stattdessen seinen ersten Langfilm, den heute legendären „Magic Bus“ (1982-84), benannt nach dem gleichnamigen Song von „The Who“: Eine Gruppe von Hippies auf einem Roadtrip in einem buntbemalten Bus. „Wir haben alle Drogen ausprobiert.“

Dann der Umzug nach Frankfurt, intensive Kinoerlebnisse. Deller wusste zu diesem Zeitpunkt schon, dass Filmemachen seine Berufung war. „Ich wollte Bilder schaffen, die über die Realität hinausgehen“, sagt er beim Kaffee im Vorraum des Kinos. 1985 hat er diese Räume zum ersten Mal betreten. „Es gab ein Super-8-Festival und ich kam mit meinen Filmrollen unter dem Arm.“ Er zeigte seine Filme und erhielt erstmals Beifall. Zum ersten Mal auch der typische Deller-Touch. Er hatte die Filmklasse der Städel-Hochschule erlebt und verstanden: „Ich muss keine Geschichte erzählen, ich kann nur den Bildern vertrauen ohne narratives Konstrukt.“ Ab 1986 Studium der Germanistik und im Nebenfach der Filmwissenschaft an der Frankfurter Goethe-Universität. Und von 1989 dann zehn prägende Jahre Studium von Film und Fotografie an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach.

Mit seiner Kamera begann der junge Regisseur, sich in Frankfurt, Offenbach, Mainz umzuschauen. „Ich betrachte eine Stadt wie eine Landschaft“, sagt er, und fügt hinzu: „Gerade die Unorte reizen mich.“ Typisch für diese Zeit ist der Kurzfilm „Andere Orte“ von 1994, entstanden in Frankfurt: Gesichter, Schaufenster, Café-Terrassen, Bäume formen ein Bild von der Stadt. Er machte die Erfahrung: „Die Welt liegt vor der Haustür, sie ist voller toller Bilder.“

Doch natürlich brauchte es einen Brotberuf. Das Kollektiv des „Mal Sehn“-Kinos im Frankfurter Nordend, 1984 gegründet, suchte einen Vorführer. Und Deller dockte 1988 an. Und blieb bis heute. Seine Fähigkeiten als Vorführer waren bald so gefragt, dass auch andere Kinos ihn buchten. Er behandelte jeden der 16 Millimeter-Filme liebevoll, „als wären es meine eigenen“. Der Fachmann arbeitete bald auf vielen Festivals. Doch es ging um mehr: Schon 1995 wurde Deller Programmmacher im „Mal Sehn“, und blieb es bis heute, gemeinsam mit Ariane Hofmann.

ZUR PERSON

Gunter Deller wurde am 6. Juni 1963 in Unterfranken geboren. Er begann im Alter von fünfzehn Jahren, eigene Super-8-Filme zu drehen. 1982-1984 entstand sein erster Langfilm „Magic Bus“.

Von 1986 an studierte er Germanistik und Filmwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt, von 1989 bis 1999 Film und Fotografie an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach. 1988 trat er ins Kollektiv des „Mal Sehn“-Kinos in Frankfurt ein, von 1995 an bis heute arbeitet er dort als Programmmacher.

Deller ist Regisseur zahlreicher experimenteller Lang- und Kurzfilme. Seine jüngste Arbeit über das Buch „Aus dem Leben eines Taugenichts“ von Joseph von Eichendorff ist dauerhaft im Deutschen Romantikmuseum in Frankfurt zu sehen. Sein Film „Light my fire“ wird am 23. April als Teil des „Lichter Filmfests“ im Deutschen Filminstitut und Filmmuseum in Frankfurt gezeigt.

Mit Gunter Deller über das Kino zu sprechen, heißt, sich auf eine aufregende Reise durch Raum und Zeit zu begeben. Er lebt und atmet Kino mit jeder Pore. Er stellt mir seine Lieblings-Kamera vor, eine Schweizer Bolex 16 Millimeter aus den 60er Jahren, mit der er viele schwarz-weiße Arbeiten gedreht hat. Wir sprechen über seine Lieblings-Regisseure Andrei Tarkowski und Ingmar Bergman und ihre Bilder, die Gesichter und Landschaften gleichermaßen unvergesslich machen. Als Deller seinen ersten Film von Tarkowski gesehen hatte, taumelte er aus dem Kino „Harmonie“ in Frankfurt-Sachsenhausen heraus und lief „wie betäubt eine Stunde in einem Trancezustand am Main entlang“. Die Filme des russischen Regisseurs, aber auch die des Schweden Bergman stellen in den Augen Dellers „existenzielle Fragen: Warum leben wir? Wie nutzen wir die Zeit, die uns bleibt?“

Immer wieder holt der Programmverantwortliche Filme ins Kino, die epische Räume schaffen, in denen die Zeit auf eine besondere Weise stillzustehen scheint. Apichatpong Weerasethakul aus Thailand ist ein solcher Regisseur, seine Arbeit „Memoria“ war für Deller einer der Höhepunkte des Kinojahres 2022. Für den Künstler bleibt das Sehen und das Drehen von Filmen ein Einschnitt im Leben: „Jeder Film, den man sieht, ist der erste, jeder Film, den man macht, ist der letzte.“

Gewiss, die epischen Filme haben es schwer in einer Zeit, die sich immer weiter zu beschleunigen scheint. Aber der Filmemacher hält auch hier gegen einen zu großen Pessimismus seine eigenen Erfahrungen: „Teilweise entdecken die Menschen wieder die Konzentration, die Stille und Ruhe.“ Gewiss, der Tod des Kinos ist schon oft vorhergesagt worden. Aber gerade sind in Frankfurt Schulkinowochen und der Betreiber ist angetan von der Ernsthaftigkeit und Aufmerksamkeit, mit denen die Jugendlichen dem Kino begegneten. Nein, es helfe nur eines: „Einfach weitermachen.“ Das Kino werde bleiben. Ja, es gebe sogar Neueröffnungen in Deutschland.

Deller spricht leise und sanft, er tritt zurückhaltend und mit Selbstironie auf. Doch seine Leidenschaft für den Film ist jederzeit spürbar und entfacht sich immer neu. Das gilt auch für den Regisseur Deller. Einer seiner Arbeiten hat er das Motto vorangestellt: „Godard vs. Haneke“. In dem Film „Der kleine Soldat“ (1960) des berühmten französischen Regisseurs Jean-Luc Godard sagt die Hauptfigur: „Kino, das ist die Wahrheit 24mal in der Sekunde.“ Der österreichische Regisseur Michael Haneke sah es viel später so: „Film ist 24mal Lüge pro Sekunde, aber vielleicht im Dienste der Wahrheit.“ Deller glaubt, „dass Film Lüge ist, aber dass man durch Film die Wahrheit sagen kann“.

2020 schloss er „Inseln von Dunkelheit, Inseln von Licht“ ab, eine ungewöhnliche Hommage an den expressionistischen Frankfurter Dichter Paulus Böhmer. Der Regisseur versucht in diesem Film, dem rauschhaften Strom der Böhmerschen Sprache durch eine Flut von Bildern zu entsprechen. „Ich baue aus Bildern einen neuen Kontext, so entsteht eine neue Wahrheit.“ Längst ist der Filmemacher selbst zum Klassiker geworden, werden seine Filme auf Festivals gezeigt, bekommt er Aufträge von Kulturinstituten. Seine jüngste Arbeit ist im Deutschen Romantikmuseum in Frankfurt am Main zu sehen: Eine 35 Minuten lange filmische Reflexion über das Buch „Aus dem Leben eines Taugenichts“ von Joseph von Eichendorff.

Wir könnten noch lange so weiter miteinander sprechen. Gunter Deller nimmt seinen bevorstehenden 60. Geburtstag zum Anlass, über Prioritäten in seinem Leben nachzudenken. Die Arbeit im „Mal Sehn“ fordert ihn stark. Aber er möchte sich künftig „mehr auf das Filmemachen konzentrieren“. In seinem Kopf kreisen noch „einige Filmideen“, Tanz zum Beispiel reizt ihn sehr. Wir dürfen gespannt sein.

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