Die dicksten ihrer Art

Manfred Wessel und die Dendrologische Gesellschaft feiern Rekordbäume – Champion Trees. Gesucht werden auch Bäume, die das Zeug haben, sehr alt zu werden.
In den Wald gehen, einen Baum umarmen. Noch einen. Und noch einen. Das war mal eine Zeitlang schwer angesagt unter Menschen, die Bäume liebhaben. Bei den Bäumen, mit denen sich Manfred Wessel beschäftigt, wird das mitunter nicht ganz klappen. Er sammelt nämlich sogenannte Champion Trees. Rekordbäume. Und viele von denen sind dermaßen dick, da kommst du mit beiden Armen nicht mal als Gibbon drumherum.
Wessel, den Freundinnen und Freunden des wachsenden Grüns noch gut bekannt als ehemaliger Leiter des Frankfurter Botanischen Gartens, macht das nicht zu seinem Privatvergnügen. Jedenfalls nicht nur. Er ist Fachreferent bei der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft (DDG) für die Rekordbäume, ein Gemeinschaftsprojekt mit der Gesellschaft Deutsches Arboretum (GDA).
Was für ein Baum gilt denn als Champion? Ein besonders hoher oder alter? Nein. „Es geht darum, den Stärksten seiner Art zu bestimmen“, sagt Wessel. Seit 15 Jahren machen sie das schon und haben einige ordentliche Wuchtbrummen ausgezeichnet: 2012 beispielsweise eine Edelkastanie im pfälzischen Dannenfels, die sogar einen eigenen Namen hat: „Dicke Keschde“. Dick ist da keineswegs übertrieben, denn dieser Baum hat einen Stammumfang von stolzen neun Metern (in Zahlen und Abkürzungen: 9m!). Da brauchst du mehrere Gibbons zum Umarmen.
Solche „Champion Trees des Jahres“ werden gerne am und um den Tag des Baumes (25. April) herum gekürt, sagt Wessel. Er gesteht, vom Plan einer Suche nach Rekordbäumen anfangs nicht allzu begeistert gewesen zu sein. „Ich dachte erst: Was soll das? Aber im Lauf der Jahre haben wir gemerkt, was für ein Potenzial da drinsteckt.“ Besondere Bäume herauszustellen und zu feiern: Das helfe, ein Bewusstsein für die Natur zu stärken. „Es interessiert die Menschen, es berührt die Menschen.“
Gerade die ganz normalen Leute in den Dörfern sind oft stolz auf ihre alten, mächtigen Bäume. Wirtschaften werden nach ihnen benannt. „Zur Linde“, „Kastanienhof“, „Zur schönen Eiche“. Und selbst Jahre später, wenn die Wirtschaft längst aufgegeben, abgerissen und durch einen Supermarkt ersetzt ist, gehen die Alteingesessenen „noch mal schnell zur Eiche, was einkaufen“.
Das Rekordbäumeteam zieht das ganze Jahr durchs Land, ein Metermaß in der Tasche, und misst jeden bundesdeutschen Baum. Oder? Aber nein, kleiner Scherz. Wessel hat zwar beim Spazierengehen meist ein Maßband dabei, aber die Hinweise kommen von Enthusiasten aus der ganzen Republik. Schließlich bedeutet es durchaus Aufwand, einen Champion Tree zu identifizieren. Nicht nur der Stammumfang muss ermittelt werden, auch die Größe der Krone (drunter durchgehen und die Ausbreitung vom Boden aus beurteilen), der Allgemeinzustand ist zu bewerten, und Fotos braucht’s zudem.
Die Daten laufen dann bei drei Personen zusammen, die die Gesamtliste der Rekordbäume pflegen. Das ist eine monströse Excel-Tabelle mit 30 Spalten, Wessel breitet die Arme weit aus, als wollte er einen Champion Tree herzen, und mit mehr als 10 000 Einträgen (in Worten: zehntausend). Eine der 30 Spalten trägt die Überschrift „Melder vw?“, und vw steht für: vertrauenswürdig. „Wir müssen uns auf die Melder verlassen können“, sagt Wessel, „aber man entwickelt über die Jahre ein Gefühl dafür, ob’s stimmt, was die Jungs uns sagen.“ Und ja: „Es sind fast immer Jungs.“ Wessel grinst. Durchaus auch alte Jungs. Sie sind es, die das ganze Jahr herumlaufen, außer im Winter. Was machen sie im Winter? Schicken ihre gesammelten rekordverdächtigen Daten an die DDG. Dann vergeht kaum ein Tag, an dem nicht zehn Meldungen eingehen.
Champion Trees
In 1,30 Meter Höhe wird der Stammumfang gemessen, um herauszufinden, wie stark ein Baum ist. Hat er da ordentlich was zu bieten, besteht die Chance, dass er ein Rekordbaum ist – einer der Champion Trees, die die Deutsche Dendrologische Gesellschaft auf ihrer Internetseite führt.
Der Champion Tree des Jahres 2023 wird im April gekürt. Es ist diesmal ein Tulpenbaum in Düsseldorf.
Informationen über die Arbeit der Gesellschaft: ddg-web.de
Und zum Projekt Nationalerbe-Bäume: nationalerbe-bäume.de
Andreas Gomolka vom Fachreferat Champion Trees hat die Liste ins Internet hochgeladen (ohne den vw-Vermerk), sodass die ganze Welt genüsslich in den Ergebnissen danach stöbern kann, was sie am meisten interessiert. Und das sind natürlich: die hessischen Champion Trees. Etwa 100 haben die Fachleute bisher gefunden, davon 30 in Frankfurt, davon wiederum 16 im Palmengarten, fünf im Botanischen, zwei bis drei im Garten der Oberräder Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen und mindestens zwei im Nizza am Main. Da, im Nizza, stehen bekanntlich Exoten, die es sonst kaum irgendwo gibt. Unter diesen Umständen ist man als Baum schnell mal der dickste weit und breit. Etwa der Westliche Erdbeerbaum, Arbutus unedo, mit 45 Zentimetern Stammumfang. Da kommst du ja fast als Eichhörnchen mit den Armen drumrum.
In Frankfurt herausragend: Ein Walnuss-Schwarznuss-Hybrid im Niddapark bei Praunheim: 4,40 Meter Umfang. Im Palmengarten steht der dickste Trompetenbaum (3,63 Meter) und im Botanischen Garten die dickste Seidenblättrige Eiche (3,05 Meter), auch Becela-Eiche genannt, weil Herbert Becela sie gepflanzt hat, Wessels Vorgänger als Gartenleiter. So schnell kann man so dick werden. Bei guter Pflege.
Gemessen wird der Umfang immer in 1,30 Meter Stammhöhe. „Das ist die Grundregel“, sagt Wessel, „aber nicht jeder Baum tut uns den Gefallen.“ Manche verzweigen sich schon in dieser Höhe, andere haben eine Beule. „Das gilt nicht.“ Dann wird eben gemessen, wo es möglich ist, und mit Fachexpertise abgewogen, wo der Baum einzuordnen ist. Die Champions sind ausdrücklich die „stärksten gemessenen“ Bäume, also die stärksten bekannten. Kann immer sein, dass hinter den sieben Bergen bei den sieben Riesen ein noch stärkerer steht und in aller Bescheidenheit über seine Rekordmaße schweigt.
Die Suche nach den außergewöhnlichen Bäumen hat eine gewisse Tradition. Oberforstrat Georg Wilhelm von Wedekind maß schon vor annähernd 200 Jahren Bäume nicht nur aus holzwirtschaftlichen Gründen. Und das „Schwäbische Baumbuch“ von 1911, das Wessel im Antiquariat entdeckte, listet alte Bäume auf, dazu prosaische Texte – Bäume, von denen manche heute noch stehen. „Das ist schon toll“, sagt Wessel.
Gibt es bei uns 1000-jährige Bäume? Der vermutlich älteste in Deutschland, die Linde in Schenklengsfeld, wird grob in diesen Bereich geschätzt, die genaue Zahl an Jahren ist umstritten. Schön wäre es, findet die DDG, wenn Bäumen generell eine gute Zukunft blühe. Die Zeiten sind hart für die Sauerstofffabriken; von Vorteil wäre es, wenn viele von ihnen alt würden, auch für uns Menschen. Die Gesellschaft hat daher eine Aktion für „Nationalerbe-Bäume“ gestartet: Bäume, die das Potenzial haben, 1000 Jahre alt zu werden. Ein Kuratorium will dafür zunächst 100 Bäume benennen. Mindestvoraussetzung: vier Meter Stammumfang. Wer einen konkreten Vorschlag für solch einen Baum hat, darf ihn gerne einreichen.
Noch ein Plan: In Frankfurt will die Dendrologische Gesellschaft hiesigen Rekordbäumen mehr Aufmerksamkeit verschaffen, die bundesweit die stärksten ihrer Art übertrumpfen – vielleicht in Form eines Spaziergangs zu den Standorten. Und dann Bäume in den Arm nehmen, ob Mensch, ob Gibbon, ob Eichhörnchen. Sie haben es verdient.

