„Die Beschimpfungengehen an die Nieren“

Stiko-Mitglied Sabine Wicker spricht über Hass-E-Mails und ihre Arbeit
Impfdiktator“, „Impfhure“, „schlimmer als jede KZ-Wärterin“. E-Mails mit solchen Beschimpfungen bekommt Sabine Wicker fast jeden Tag. „Gut war auch: ,Mögen Sie in einem dunklen Keller an eine Heizung gekettet Ihrer Strafe entgegensehen!!!‘“ Sie grinst schief. „Dann könnte ich endlich mal in Ruhe Studien lesen. Und solche E-Mails bekäme ich auch nicht mehr.“
Die Professorin leitet den Betriebsärztlichen Dienst des Frankfurter Uniklinikums, der seit Beginn des Jahres etwa 12 000 Impfungen vorgenommen hat. Außerdem ist sie die stellvertretende Vorsitzende der Ständigen Impfkommission, kurz Stiko. Ehrenamtlich, wie alle 18 Mitglieder des Gremiums. Dass sie dafür einmal beschimpft werden würde, hätte sie sich bei ihrer Berufung vor zehn Jahren nicht träumen lassen. „Ich war unglaublich stolz!“ Bis heute weiß sie nicht, wer sie damals vorgeschlagen hat.
Während sich die Arbeit vor Corona auf drei Treffen pro Jahr beschränkte, tagt die Stiko seit Beginn der Pandemie wöchentlich, erzählt Wicker in einem Vortrag beim House of Pharma & Healthcare. In ihren Sitzungen diskutieren die 18 Mediziner:innen, welchen Impfstoff sie guten Gewissens für welche Personengruppen zulassen können. Damit gehe ihre Arbeit über die der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) hinaus, sagt Wicker. Zwar prüfe auch die EMA Sicherheit, Wirksamkeit und Qualität des Impfstoffs, doch sei Sicherheit kein universal bestimmbarer Wert, sondern hänge von Alter und Vorerkrankungen ab. Die Zulassungsstudien der EMA erfolgten aber oft an so wenigen Probanden, dass unklar bleibe, für welche Gruppen der Nutzen der Impfung das Risiko übersteige und für welche nicht. „Unsere Arbeit fängt an, wenn die EMA ihren Job gemacht hat.“
Basis für eine Einschätzung der Stiko ist die systematische Analyse aller weltweit vorhandenen Studien zu einem Wirkstoff. Allein für die verschiedenen Covid-Vakzine gehe die Zahl der – oft noch unveröffentlichten – Studien in die Tausende. „Und Sie finden zu jeder Aussage eine Studie.“ Die seriösen herauszufiltern, auszuwerten und darüber hinaus sinnvolle mathematische Modelle zu erstellen, würden die Stiko-Mitglieder zusätzlich zu ihren Haupttätigkeiten niemals schaffen. Deshalb gehen ihnen die drei Vollzeitmitarbeiter:innen der Geschäftsstelle und bis zu 20 andere Wissenschaftler:innen etwa von Robert Koch- oder Paul-Ehrlich-Institut zur Hand. Viel zu wenig, findet Wicker, vor allem, da seit Beginn der Pandemie zahlreiche andere Themen liegengeblieben seien. „Das können wir mit drei Leuten nicht effektiv abarbeiten.“ Der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) habe aber bereits Abhilfe versprochen.
Liegen der Stiko die Ergebnisse dieser Arbeit vor, geht es in die Diskussion über das Verhältnis von Risiko und Nutzen für die Gesamtbevölkerung oder eben bestimmte Gruppen. Nicht immer seien die Mitglieder einer Meinung. Dem Gremium gehören unter anderem fünf Kinderärzt:innen, drei Virolog:innen, eine Pharmakologin und zwei Allgemeinmediziner:innen an.
Bei der finalen Abstimmung sei jedes Mitglied nur seinem eigenen Gewissen unterworfen. „Ich entscheide danach, was ich auf Basis von wissenschaftlicher Evidenz für richtig halte. Und das finde ich auch gut und wichtig.“ Stimmt mehr als die Hälfte der Stiko-Mitglieder für eine Empfehlung, ist sie angenommen und gilt damit künftig als medizinischer Standard.
Die erste Empfehlung zu einem Corona-Impfstoff traf die Stiko am 17. Dezember 2020: Nach Sichtung aller verfügbaren Daten sei der Nutzen einer Impfung mit dem Wirkstoff von Biontech größer als deren Risiko.
Am 1. April empfahl die Stiko Astrazeneca für Unter-60-Jährige. Der Grund: Bei der Zulassung sei der Impfstoff an so wenigen Über-60-Jährigen getestet worden, dass dem Gremium die Datenlage zu dünn war, um die Nutzung guten Gewissens zu empfehlen, sagt Wicker. Eineinhalb Monate später, nachdem klar war, dass bei Jüngeren das Thromboserisiko erhöht sein kann, drehte die Stiko die Empfehlung um; fortan wurde Astrazeneca vor allem bei Menschen über 60 eingesetzt. „Wir können ja nicht einfach sagen: Das haben wir letzten Monat anders empfohlen, das lassen wir jetzt mal so“, führt Wicker aus. „Natürlich müssen wir unsere Empfehlung an die aktuellen wissenschaftlichen Daten anpassen.“
Dennoch wurde diese Kehrtwende heftig kritisiert, nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von der Politik. Genauso wie die Zeit, die die Stiko brauchte, bis sie die Impfung von Kindern empfahl. Und dazwischen immer wieder die E-Mails mit den Beschimpfungen und den vielen Ausrufezeichen. „Das geht einem natürlich an die Nieren, das steckt man nicht so einfach weg.“
Die wirklich schlimmen Beleidigungen melde sie an „Hessen gegen Hetze“, das Meldesystem der hessischen Landesregierung gegen Hass im Internet. Warum sie unter diesen Umständen überhaupt noch weitermacht? „Ich möchte für alle die bestmögliche Impfempfehlung“, sagt Wicker. Denn die Menschen ließen sich nur impfen, wenn sie Vertrauen hätten. Und die Erhöhung der Impfquote sei in Anbetracht von Omikron wichtiger denn je.
Wickers Blick schweift kurz in die Ferne. „Und ich arbeite weiter für die Stiko, damit wir die Pandemie irgendwann auch wieder beenden können.“