Der Mann mit dem besonderen Gehör

Der Frankfurter Markus Boss hat zwei Cochlea-Implantate und hört trotzdem feine Nuancen in der Musik. In seinem Beruf eine unerlässliche Fähigkeit. Doch dies musste er sich wieder hart erarbeiten.
Nein, anschreien muss man Markus Boss nicht, damit er einen versteht. Auch von den Lippen ablesen kann der 62-Jährige, der vor mehr als zehn Jahren langsam schwerhörig wurde, nicht. Was durchaus helfe, sei deutliches Sprechen, verrät er zum Welttag des Hörens am heutigen Freitag, 3. März. Aber im Grunde kann der Frankfurter heutzutage alles wieder verstehen. Denn er hat mittlerweile zwei Cochlea-Implantate, die ihm das Hören ermöglichen.
Cochlea ist der lateinische Name des Innenohrs beziehungsweise der Hörschnecke. Das Implantat selbst wird mittels Operation in eine ausgefräste Vertiefung des Schädelknochens eingesetzt. Die daran befestigten Elektrodenbündel werden durch ein gebohrtes Loch ins Innenohr gelegt. Der äußere Teil der Technik wird meist hinter dem Ohr getragen und überträgt digitale Informationen über die äußere Spule an die implantierte Spule.
Das Einstellen der einzelnen Elektroden des CI abgekürzten Cochlea-Implantats ist fast eine Wissenschaft für sich. Boss hat ein Mal im Jahr einen Termin, an dem die Technik überprüft und justiert wird. „Man kann jeden Vokal, jeden Konsonanten einzeln einstellen, bis man ihn richtig gut hört.“ Für den 62-Jährigen sind die Ohren wichtig, denn er ist in der Produktionsleitung des Festpielhauses Baden-Baden beschäftigt. Konzerte, Opern oder auch Kammermusik sind an der Tagesordnung und Boss muss hören, ob alles gut klingt. Er verantwortet den Aufbau des Orchesters und muss die Balance im Saal sicherstellen.
Seit jeher ist der gebürtige Süddeutsche mit der Musik verwurzelt. Er studierte Gesang in Karlsruhe, war Opernsänger und hatte Auftritte an der Oper Frankfurt. Seit mehr als 35 Jahren ist die Mainmetropole sein Zuhause, auch wenn er wegen der Arbeit mehrere Tage in der Woche in Baden-Baden wohnt.
2008 bemerkt Boss das erste Mal, das sein Gehör schlechter wird. Das Hörvermögen schwankt von Tag zu Tag. Hat er Stress, hört er besonders schlecht. „Teilweise war das Gehör dann komplett weg.“ Verzweiflung ist das Wort, das ihm einfällt, wenn er an diese Zeit zurückdenkt. Die Medizin findet keine Ursache für den Hörverlust. Bis heute ist nicht klar, was dazu führte. „Es war eine heftige Zeit“, sagt er. Boss bekommt zunächst Hörgeräte. Ein paar Jahre funktioniert das, dann reichen sie nicht mehr. „Ich konnte so nicht mehr arbeiten.“
Auch privat zog sich der 62-Jährige mehr und mehr zurück. Schlussendlich fiel die Entscheidung für ein CI. 2016 bekam er in der Frankfurter Uniklinik das erste Implantat rechts eingesetzt. Ein Jahr später folgte auch die linke Seite. Vor der ersten OP bereitet sich Boss sehr gut vor. Er kauft spezielle Hörbücher und die passenden Bücher dazu, um mitzulesen, ob sein Ohr auch genau das hört, was gesagt wird. Als er bei den Tests nach der Operation merkt, dass sein Hörnerv wieder ungeahnte Frequenzen wahrnehmen kann, laufen ihm die Tränen über die Wangen.
Obwohl das Hören von Sprache von Beginn an gut klappt, folgt bald Ernüchterung. Die Musikstücke, die er hört, klingen eigenartig. Fast wie Mickey Maus. „Das war traurig.“ Doch der 62-Jährige gibt nicht auf. Er trainiert das Hören mit dem Implantat. Wochenlang. „So lange, bis ich jedes Mal erschöpft auf dem Sofa eingeschlafen bin.“ Später folgen vier Wochen Reha in St. Wendel im Saarland. Mit der Zeit klingt die Musik immer besser. „Es war hart und man muss es sich wirklich erarbeiten“, sagt Boss heute rückblickend. Mittlerweile klingt die Musik wie in seiner Erinnerung. Dass man mit Implantat nicht so gut hören könne wie andere, sei ein Vorurteil, das nicht stimme.
Trotzdem sei der Alltag nicht ohne Herausforderungen. Störlärm wie etwa im Einkaufszentrum oder im Café sei besonders schwierig: In solchen Situationen müsse man sich stark konzentrieren. Eine Hilfe ist dann die Handy-App, mit der er die Implantate bedienen kann. So kann er die Lautstärke anpassen oder den Café-Modus einstellen, der Nebengeräusche minimiert und den Fokus auf Töne direkt vor einem richtet. Auch Batterien müsse er stets dabei haben. „Demnächst habe ich aber Geräte mit Akkus“, sagt er.
Allen Menschen, die Probleme mit dem Hören haben, möchte Boss mit auf den Weg geben: „Wartet nicht zu lange mit dem CI, wenn es mit den Hörgeräten nicht mehr geht.“ Sein Leben habe sich dadurch zum Besseren gewendet. Aber – auch das gehöre zur Wahrheit – es gebe keine Garantie, dass es gelinge. Nicht bei jedem funktioniere das Hören mit Implantaten so gut wie bei ihm.