98-jährige Ukrainerin flüchtet nach Frankfurt, um „Familie zu retten“

Alexandra Kosiakova flieht mit ihrer Familie aus Kiew nach Frankfurt. Als junge Frau war sie schon mal in Deutschland: als Zwangsarbeiterin.
Frankfurt – Wäre sie alleine gewesen, hätte die 98-Jährige ihre Heimatstadt Kiew trotz des Krieges wohl nicht mehr verlassen. „Ich wollte nicht fahren. Ich wusste nicht, ob ich die lange Reise schaffe. Und ich dachte: ‚Wer braucht mich, so eine alte Frau, hier in Deutschland?‘“, sagt Alexandra Kosiakova.
Sie kennt das Land bereits aus eigener trauriger Erfahrung: Als 19-Jährige wird sie im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten nach Deutschland verschleppt, arbeitet auf einem Bauernhof als Zwangsarbeiterin. Seitdem war sie nicht mehr in Deutschland. Bis jetzt. „Ich habe nie geglaubt, dass ich zurückkehren werde.“ Sie sitzt in einer kleinen Zwei-Zimmerwohnung unweit des Frankfurter Merianplatzes. Ihren Gehstock hat sie zwischen ihre Beine gesteckt. Das Laufen fällt ihr sehr schwer, sie muss gestützt werden, aber im Kopf ist sie topfit. Ihre blauen Augen leuchten, wenn sie erzählt, und sie hat viel zu erzählen. „Da reicht Ihr Block nicht aus“, sagt sie und lacht. Ihren Humor hat sie ebenso wenig aufgegeben wie ihre Herzlichkeit.
Vier Generationen flüchten vor Ukraine-Krieg nach Frankfurt
Auf einer der Schlafmatratzen sitzt ihre Tochter Alla Skliaruk (64), unweit davon ist ihre Enkelin Alina Khimich (31), die Urenkelin Viktoria (10) spielt im Nebenzimmer. „Wir wollen sie nicht mit dem Thema belasten“, sagt Alexandra Kosiakova, die die Hausaufgaben der Urenkelin, die Fern-Unterricht mit ihrer ukrainischen Schulklasse hat, immer überprüft. Im Sitzen kocht Kosiakova Suppen für die ganze Familie. Die „Babusya“ („Oma“) wie sie ihre Familie nennt, ist die Chefin der Familie. „Sie hat alles unter Kontrolle“, sagt ihre Tochter, die gerade ein Bett mit ihrer Mutter teilt.

Die vier Frauen aus vier Generationen sind sich aber nicht nur räumlich sehr nah. Das spürt man sofort. Bis vor kurzem lebten sie alle zusammen im zehnten Stock eines Hochhauses in der ukrainischen Hauptstadt. Der einzige Mann in der Familie ist ihr kleiner, kuschliger Hund Roma, der mal Romeo hieß. „Er ist unser Beschützer“, sagt Alexandra Kosiakova und lacht. Sie ist schon lange verwitwet, ihre Tochter und die Enkelin sind geschieden.
Seit dem 9. März sind sie in Frankfurt: Zuvor harrten sie zwei Wochen lang in einem Luftschutzbunker des Nachbarhauses in Kiew aus, um sich vor den Bomben zu schützen. Alexandra Kosiakova erkältet sich, die Urenkelin bekommt Windpocken. Alla Skliaruk erzählt: „Wir hatten keinen Zugriff auf Ärzte. Das war der Punkt, wo wir sagten, wir müssen weg. Und ich sagte meiner Mutter: ‚Ohne dich fahren wir nicht‘“. Alexandra Kosikova betont: „Ich habe die Flucht auf mich genommen, um meine Familie zu retten.“
Nur einen einzigen Koffer können sie mitnehmen: „Ein paar Medikamente, für jede ein Set an Wechselsachen, wichtige Dokumente, etwas Essen für die Reise“, so Alla Skliaruk. Drei Tage sind sie mit einem der letzten Reisebusse unterwegs. Zwischendrin haben sie eine Panne, unweit von ihnen schlägt in einem Gebäude eine Bombe ein. Wenn sie jetzt in Frankfurt ein lautes Geräusch hören, schrecken sie auf, erzählen die drei Frauen. Krankenwagen-Sirenen erinnern sie an den Alarm im Luftschutzbunker. Ansonsten mögen sie Frankfurt, es sei so schön ruhig, die Menschen freundlich.
Aber warum sind sie ausgerechnet nach Deutschland gekommen, das Land, wo die Urgroßmutter der Familie so schlimme Erfahrungen gesammelt hat? Die älteste Enkeltochter Julia (38) lebt in Thailand, das wäre für eine Flucht nicht nur zu weit gewesen, sondern es gingen auch keine Flugzeuge mehr raus. Ansonsten kennen sie niemanden im Ausland.
„Kommt nach Frankfurt“
Bis auf die Familie von Xenia Besarabska (31). Die Sachsenhäuserin ist gebürtige Ukrainerin und eine Grundschulfreundin der Enkelin Alina Khimich: „Ich sagte ihnen, als der Krieg losging: ‚Kommt nach Frankfurt‘.“ Xenia Besarabska selbst kam mit ihrer Familie nach Deutschland, als sie acht Jahre alt war. Sie hilft der Familie bei Behördengängen, und sie übersetzt. Denn nur die Uroma versteht Deutsch. „Ich lernte Deutsch schon in der Schule. Wir waren alle in unseren Deutschlehrer sehr verliebt, also strengten wir uns sehr an“, sagt Alexandra Kosiakova und kichert wie ein Schulmädchen. Auf dem kleinen Tisch liegt ein Zettel, auf dem sie für ihre Familie deutsche Vokabeln wie „Butter, Hose, Straße, lesen, geben, bringen“ mit Lautschrift und der entsprechenden ukrainischen Übersetzung geschrieben hat. Im Schreiben hat sie viel Übung. Denn als die Enkelin 1990 geboren wird, wird die Familie von der „Gesellschaft für „Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ angeschrieben, ob sie nicht an einer Brieffreundschaft interessiert sei. Die Briefe schrieb sie an die Ginnheimerin Helga Werner, Jahrgang 1937. „30 Jahre lang hatten wir eine Brieffreundschaft, jetzt haben wir uns zum ersten Mal persönlich kennengelernt“, sagt Alexandra Kosiakova. Das erste, was ihre Brieffreundin zu ihr sagte: „Ich kann nicht glauben, dass du diejenige bist, die diese Briefe in Schönschrift verfasst hast und ich habe immer so eine Krakelschrift.“ Beide hätten sehr gelacht.
Ihre Geschichte erzählt Alexandra Kosiakova in ihrer Muttersprache. „Ich muss erstmal wieder nach all den Jahren reinkommen, Deutsch zu sprechen“, sagt sie. Xenia Besarabska übersetzt.
Aufgewachsen ist Alexandra Kosiakova als drittes von vier Kindern in einem Dorf unweit der heutigen ukrainischen Stadt Poltawa, damals gehörte diese zur Sowjetunion. Am Tag nach ihrem Abiball im Jahr 1941 beginnt der Krieg auch in der Sowjetunion, sagt sie. Zwei Jahre später wird sie von den Nazis gefangen genommen, weiß nicht, wo sie hingebracht wird. In Deutschland habe sie das Arbeitsamt an die Familie Bamberger verteilt. Die Familie hatte einen Bauernhof in Steinhardt, heute ein Stadtteil von Bad Sobernheim im Landkreis Bad Kreuznach. Der Familienvater war im Krieg. „Es gab noch eine andere ukrainische Zwangsarbeiterin und einen Franzosen und einen Polen. Wir alle mussten auf dem Feld und auf ihrem Weingut arbeiten. Der Opa der Familie hat uns immer ganz genau bei der Arbeit beobachtet.“ Zwei Jahre lang habe sie von morgens bis abends hart gearbeitet. „Ich wusste nicht, was in der Welt passiert. Ich hatte keinen Zugang zu Nachrichten.“ Sie habe einfach funktioniert. Ihre Emotionen waren abgeschaltet.
1945 wird das Dorf schließlich von US-amerikanischen Soldaten befreit, zwei Monate lebt sie mit anderen Zwangsarbeiter:innen in einer große Halle, bis sie mit Bussen über Polen zurück in die Sowjetunion durfte. „Meine Eltern dachten die ganze Zeit, ich sei tot.“ Doch kaum ist sie zurück, taucht ein KGB-Mitarbeiter auf und sagt: „Du hast für die Nazis gearbeitet. Dass es Zwangsarbeit war, wollte er nicht hören. Wir galten als Verräter. Als Strafe musste ich schwere Arbeiten auf einer Baustelle verrichten. Ohne Lohn, wir hatten nichts zu essen.“
Sie hält das nicht aus, flieht nach zwei Monaten zu ihrer älteren Schwester, die in der Nähe von Poltawa lebt. „Ich fuhr schwarz, weil ich hatte ja kein Geld. Anderthalb Jahre lebte ich dort. Meinen Eltern sagte ich, dass sie niemanden sagen sollten, wo ich bin. Denn der KGB suchte mich.“ Ihre Schwester habe ihr geholfen, einen Ausweis zu bekommen.
Sie flüchtet erneut, diesmal nach Kiew zu ihrem Onkel. „Ich dachte, das ist eine große Stadt, hier finden sie mich nicht.“ Eine Woche nach ihrer Ankunft habe sie sich Arbeit gesucht. „Ich wollte nicht einfach faulenzen.“ Sie beginnt als Aushilfe in der Buchhaltung in einem Autoreparaturwerk, bald steigt sie zur Buchhalterin auf, zieht ins Wohnheim des Werks. Sie sei immer schon sehr zielstrebig gewesen, ihr Abitur habe sie wegen ihrer sehr guten Noten mit einer Goldmedaille abgeschlossen. „Abends nach der Arbeit begann ich an der Uni, Textilingenieurwesen zu studieren.“ Sie habe zudem einfach auch kämpfen müssen. „Ich war ganz alleine, niemand hat mir auch nur mit einem Cent ausgeholfen.“
Bis zu ihrer Rente arbeitet sie als Textilingenieurin, macht Dienstreisen in der ganzen Ukraine. Zwischendrin verkuppelt eine Nachbarin sie mit ihrem späteren Mann. „Wir liebten beide klassische Musik. Bei unserer ersten Verabredung gingen wir zu einem Konzert. Ich mochte ihn sofort. Er war ein netter, zurückhaltender Mann.“ Sie bekamen Alla: „Ich wurde wie meine Mutter Textilingenieurin. Ich habe in einer Fabrik für Militärkleidung und Schutzwesten gearbeitet“, berichtet diese.
Eigentlich ist die 64-Jährige schon in Rente. „Aber ich bekomme in der Ukraine 70 Euro im Monat Rente. Also habe ich dort Nachhilfe in Mathematik gegeben. In Frankfurt würde ich gerne ukrainische Kinder unterrichten“, sagt Alla Skliaruk. Auch die Enkelin Alina Khimich will soll schnell wie möglich anfangen, hier zu arbeiten. „Ich habe Luftfahrttechnik studiert. Aber als Viktoria geboren wurde, habe ich einen Schönheitssalon eröffnet. Ich kann also Nägel und Flugzeuge reparieren“, sagt die 31-Jährige und lacht. Eine vorläufige Arbeitsgenehmigung hat sie bereits. Deutsch lernt sie mit der Uroma und einer Sprach-App. „Ich würde auch erstmal ein Praktikum machen.“
Ukraine-Krieg: Geflüchtete suchen Wohnung in Frankfurt
Aber vor allem suchen die vier Frauen für sich und das Hündchen dringend eine Wohnung in Frankfurt. Denn nur noch bis Ende der Woche können sie in der Bornheimer Wohnung von Freunden von Xenia Besarabska bleiben. „Danach ziehen Alina und Viktoria erstmal zu mir, aber ich habe nur ein zwölf Quadratmeter großes Gästezimmer“, sagt Xenia Besarabska. Die Urgroßmutter und Oma kommen zunächst bei einem Arbeitskollegen von Besarabska unter. „Ein Zimmer im Kellergeschoss, dorthin führen 17 steile Treppenstufen. Diese Stufen werden für Alexandra ein großes Hindernis darstellen, so dass sie nicht nach draußen gehen kann“, betont Besarabska.
Alina Khimich sagt: „Wir wollen wie in Kiew wieder alle zusammen wohnen. Wir brauchen einander. Es müsste eine Wohnung im Erdgeschoss oder mit Fahrstuhl sein, weil Oma eben kaum laufen kann.“ Das Sozialamt würde die Miete übernehmen.
Bei einem Punkt sind sich die drei erwachsenen Frauen uneinig: Ende Mai beendet die zehnjährige Urenkelin Viktoria die vierte Klasse via Fernunterricht. Alexandra Kosiakova und Alla Skliaruk hoffen, dass sie bis zum Beginn des neuen Schuljahrs im September zurück nach Hause, in die Ukraine können. Alina Khimich plant hingegen hier zu bleiben: „In Deutschland kann ich meiner Tochter eine bessere Zukunft ermöglichen.“
Zum Abschied steht Alexandra Kosiakova auf, und gibt noch einen Ratschlag: „Das Leben ist schwer, aber hört nie auf zu kämpfen, dann werdet ihr so alt wie ich.“
Wie geht es weiter mit den vier Frauen? Wir begleiten die Familie, berichten in regelmäßigen Abständen über ihr neues Leben in Deutschland. (Kathrin Rosendorff)
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