17-jährige Zwillinge flüchten aus Kiew nach Frankfurt

Die Zwillingsbrüder Andrii und Dmytro Turchyn konnten aus ihrer Heimat Kiew fliehen. Aber nur weil, sie noch 17 sind. Eine Frankfurter Familie hat sie aufgenommen.
Frankfurt – Bis zum Ausbruch des Kriegs in der Ukraine haben Andrii und Dmytro Turchyn ihre Freunde, die schon 18 sind, beneidet. In ihrer Heimatstadt Kiew dürfe man sogar erst auf der Straße Fahrrad fahren, wenn man volljährig sei, erzählt Dmytro. „Jetzt sind wir so dankbar, dass wir noch 17 sind. Denn sonst hätten wir unser Land nicht verlassen dürfen.“ Womöglich hätten sie sonst wie ihre Freunde Barrikaden gebaut oder hätten sich zum Dienst an der Waffe gemeldet. Dass sie dort hätten sterben können, ist ihnen bewusst. „Aber wir hatten Angst, dass unsere Mutter das nicht verkraftet hätte.“
Die Nachrichten verfolgen sie täglich. „Es fühlt sich komisch an zu sehen, wie Gebäude weggebombt sind, dort wo ich vor kurzem mit meinen Freunden noch Kaffee trank“, sagt Andrii, der fünf Minuten älter ist als sein Bruder. Die Eltern sind geschieden, der Vater musste bleiben, die Stadt verteidigen. „Wir telefonieren mit ihm, das geht noch“, sagt Andrii. Sein Bruder sagt, emotional sei das nur schwer auszuhalten. Im Juni feiern die beiden ihren 18. Geburtstag. Seit dem 7. März sind sie mit ihrer Mutter in Frankfurt.
Ukraine-Krieg: Zwillinge fliehen aus Kiew nach Frankfurt – „Sind sehr, sehr dankbar“
Sie sitzen an diesem windigen Tag im Vorgarten des Hauses ihrer Gastfamilie auf dem Riedberg. Dmytro trägt Socken mit Kirschen darauf, Andrii mit Kätzchen. „Als wir hier ankamen, hatten wir kaum etwas. So viele Leute haben uns Essen und Kleidung gespendet. Wir sind sehr, sehr dankbar. Vor allem dafür, dass unsere Gastfamilie uns bei sich zu Hause aufgenommen hat.“
Die Mutter der Zwillinge, Nadia Turchyna (56), ist an diesem Tag stark erkältet und kann so nicht beim Interview dabei sein. Der Nachname der Familie steht handgeschrieben neben dem ihrer Gastgeberfamilie auf dem Klingelschild. „Wir bekommen nämlich viel Post. Auch vom Sozialamt“, sagt Dmytro, den im Alltag alle mit seinem Spitznamen Dima ansprechen. „Meinen Bruder nennen in Deutschland alle Andy, weil es für Deutsche leichter auszusprechen ist“, sagt Dima und lacht.
Die beiden jungen Männer sprechen sehr gut Englisch. Das sei jetzt ein großer Vorteil, viele der geflüchteten Ukrainer:innen, auch ihre Mutter, könnten kein Englisch. „Wir hatten bereits Englisch zur Vorbereitung für die Uni gelernt“, erzählt Dima. Denn in der Ukraine, wo es nur elf Schuljahre gibt, waren sie schon Studenten. Miteinander unterhalten sie sich auf Russisch. „Unsere Mutter kommt aus einer russischen Familie.“ Ukrainisch können sie auch, die Sprache, die auch in der Schule gesprochen wird.
Krieg in der Ukraine: Andrii und Dmytro erzählen in Frankfurt ihre Geschichte
Als die Zwillinge von ihren letzten Tagen in Kiew erzählen, werden sie ernst. „Wir waren nach Kriegsbeginn zehn Tage lang in unserer Wohnung. Wir hörten fünf- bis sechsmal am Tag Bomben, die unweit von uns einschlugen. Jede Stunde gab es einen Bombenalarm. Am Anfang waren wir sehr nervös, aber nach drei Tagen hatten wir uns daran gewöhnt“, sagt Dima. Die Lage wird schlimmer, sie hören von Straßenkämpfen in der Nachbarschaft. Andrii sagt: „Wir hatten große Angst, also beschlossen unsere Mutter und wir: ‚Wir müssen hier weg‘.“
Sie kaufen sich Zugtickets nach Lwiw, weil die Stadt nahe der polnischen Grenze liegt. Aber schon die Situation am Kiewer Bahnhof ist dramatisch: „Es herrschte Massenpanik. Alle wollten weg, wir wurden geschubst, es gab kaum ein Durchkommen. Es ist ein Wunder, dass wir es mit unserer Mutter bis zum Zug schafften“, sagt Dima. Auch die Zugfahrt ist hart. „Wir standen zwölf Stunden dicht gedrängt, nur ab und zu konnten wir kurz sitzen. Es gab keine Möglichkeiten, auf die Toilette zu gehen. Die Menschen nutzten leere Flaschen oder Tüten für ihre Kinder, viele hatten Haustiere dabei. Der Gestank war kaum auszuhalten“, erzählt Andrii.
In Lwiw nehmen sie ein Taxi zur slowakischen Grenze. „Eigentlich wollten wir nach Polen, aber dorthin wollten so viele Menschen, dass wir mindestens zwei Tage an der Grenze hätten warten müssen“, sagt Andrii. Deutschland ist da noch nicht ihrem Kopf. Aber als sie in einem slowakischen Flüchtlingscamp übernachten, ändert sich das. „Dort lernte unsere Mutter eine andere Ukrainerin kennen, die sagte, wir sollten mit ihr nach Frankfurt fahren. Sie habe eine Freundin, die als Ehrenamtliche arbeite, sie könne uns eine Unterkunft organisieren“, so Dima. „Aber als wir am Frankfurter Hauptbahnhof ankamen, war niemand da.“
Ukraine-Krieg: Das sind die Pläne von Andrii und Dmytro in Frankfurt
Stattdessen treffen sie auf andere Geflüchtete, die ihnen sagten, sie könnten in einer Sporthalle unterkommen. „Die Flüchtlingsunterkunft war nicht weit vom Riedberg“, sagt Dima. Dort lernt Andrii nach der ersten Nacht einen Ehrenamtlichen kennen, der ihm erzählt, dass er eine Familie kennt, die Platz für drei Personen hat. „Das war ein großes Glück. Wir haben zwei Räume für uns. Aber wir können hier nicht ewig bleiben, die größte Herausforderung für uns ist es, eine Wohnung für uns drei zu finden“, sagt Andrii. Dima möchte unbedingt in Frankfurt bleiben. „Ich mag Frankfurt, ich finde die Architektur hier superschön.“
An eine baldige Rückkehr in ihre Heimat glauben sie nicht. „Wir wollen keine Zeit verschwenden mit Warten“, sagt Andrii nüchtern. „Wir müssen uns bemühen, dass wir hier mit unserem Leben weitermachen.“ Auch wollen sie gerne in Deutschland studieren. Dima hatte gerade in Kiew angefangen, Lebensmitteltechnologie, sein Bruder Maschinenbau zu studieren.
Hier möchte Andrii gerne Bauingenieurwesen, sein Bruder Wirtschaft oder Informatik studieren. Damit ihr Schulabschluss anerkannt wird, gebe es zwei Optionen: „Entweder nochmal aufs Gymnasium zu gehen, was schwer ist, weil wir kein Deutsch können“, sagt Dima. Oder sie müssten ein Jahr aufs Studienkolleg, um eine Zugangsberechtigung für deutsche Hochschulen zu erlangen. „Aber wir wissen nicht, ob wir dafür finanzielle Hilfen vom Staat bekommen.“ Wenn das keine Option sei, schauten sie auch nach einem dualen Studium oder einer Ausbildung, um erst mal Geld zu verdienen. Ehrenamtlich geben sie bereits Basketballkurse für Kinder in Kalbach.
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Frankfurt: Zwillinge haben nach ihrer Flucht noch Hoffnung, ihr Land wieder aufzubauen
„Als erstes müssen wir Deutschkurse besuchen, damit wir die notwendigen Sprachzertifikate für ein Studium machen können“, sagt Dima. Sie sind auch schon fleißig dabei, besuchen einen Deutschkurs, den eine Ehrenamtliche gibt. „Unserer Mutter fällt es schwerer als uns, Deutsch zu lernen“, sagt Dima. In Kiew war die 56-Jährige Buchhalterin im Sozialministerium.
Selbst wenn der Krieg irgendwann vorbei sei, glauben die Zwillinge, dass die Nachwirkungen lange andauern. Andrii sagt: „Das, was Putin mit seinem Krieg angefangen hat, hat das Verhältnis zwischen Ukrainern und Russen für eine sehr lange Zeit zerstört.“ Er betont aber auch: „Ich hoffe, dass ich eines Tages zurückkehren und helfen kann, unser Land wieder aufzubauen.“
Wie geht es mit den Zwillingsbrüdern und ihrer Mutter weiter? Wir berichten in regelmäßigen Abständen über ihr neues Leben in Deutschland. (Kathrin Rosendorff)
In Frankfurt demonstrierten vor Kurzem Tausende gegen den Krieg in der Ukraine. Europastaatssekretär Uwe Becker sprach sich für ein Gasboykott aus.