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Auf dem Pflaster liegt das Glück

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Von: Konstantin Arnold

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Rollstuhlfahrerin Eva vor einem alten Haus
„Mitleid, sagt Eva, erscheint ihr manchmal wie die kultivierte Form der Verachtung.“ © Konstantin Arnold

Die portugiesische Hauptstadt Lissabon ist alles, aber nicht barrierefrei. Trotzdem ist sie für Rollstuhlfahrerin Eva der schönste Ort der Welt. Konstantin Arnold (Text und Fotos) ist mit ihr in seiner Wahlheimat unterwegs.

Die Geschichte von Eva wollte ich schon lange schreiben, aber ich wollte sie nicht schreiben, bis ich sie wirklich schreiben muss. Jetzt ist der Sommer da und meine Freundin weg, und der Zeitpunkt könnte eigentlich nicht beschissener sein. Außerdem haben sie vergangene Woche bei Eva eingebrochen, was ganz und gar nicht zu der West Side Story passt, die ich erzählen will. Aber so ist das Leben, und das Leben ist die Geschichte von Eva Rosenau.

Eines heißen Julitages bekomme ich eine Mail von ihr. Sie habe mein Buch gelesen, schreibt sie, ich antworte kurz, schön und gut und danke. Eva erwidert, sie sei gerade nach Lissabon gezogen. Ich gratuliere ihr. Sie schreibt, dass man sie für verrückt erkläre, weil sie doch schon über 60 sei und ihr Leben in Dieburg aufgegeben habe, aber in Lissabon sei sie näher bei ihrem Sohn. Ich schreibe, dass ich das toll finde und daran ganz und gar nichts verrückt sei. Die Menschen, die ab einem gewissen Punkt im Leben bleiben, was sie sind, und denken, so bin ich und so sterbe ich und nichts passiert mehr, doch kein goldener Reiter, die finde ich viel verrückter. Eva schickt mir einen Smiley und schreibt, das stimme, aber dass sie an einen Rollstuhl gebunden sei. Mehr nicht. Jetzt denke ich: Warte mal, Lissabon, über 60, Rollstuhl, einfach so hergezogen, vielleicht spinnt sie doch. Ich frage, wo sie denn wohne, ich käme gleich mal hin, dann könnten wir eine Runde drehen. Ich würde ihr gerne ein paar schöne Orte zeigen, die nicht für Rollstuhlfahrerinnen geeignet sind. Sie schickt mir ihre Adresse. Es ist schicksalhaft: Wir wohnen drei Häuser voneinander entfernt.

Auf dem Kopfsteinpflaster der Altstadt bleiben wir oft hängen

Ich habe in meinem Leben noch nie einen Rollstuhl im Juli durch Lissabon geschoben und möchte es auch nie wieder tun. Es ist mehr Workout als Finale mit Verlängerung und ein paar Runden Tennis. Bergauf muss man schieben wie verrückt und bergab halten wie verrückt, bis einem die Handgelenke reißen. Dazu die Rumpfmuskulatur, mit der man verhindert, dass einem das Ding zur Seite wegkippt. Gut ist, dass uns aus allen Fenstern und Türen die Menschen zugucken und zujubeln und fragen, ob sie helfen können. Auf den Straßen fahren die Autos und Busse einen gefühlten Kilometer an uns vorbei, als wollten sie sagen: Hallo, wir sehen euch, ihr seid bedürftig, und wir wollen gut zu euch sein! Ich frage Eva, ob sie das Gucken und die Fragen und der gefühlte Kilometer nicht stören. Sie sagt, sie habe sich daran gewöhnt. Ich erwidere, von mir bekomme sie aber kein Mitleid. Das habe sie gar nicht verdient. Mitleid, sagt sie, erscheine ihr manchmal wie die kultivierte Form der Verachtung.

Auf dem Kopfsteinpflaster der Altstadt bleiben wir oft hängen, zwei Mal fällt sie fast aus dem Stuhl oder hätte sich verletzen können, aber das alles ist ihr egal. Wir haben einen grandiosen Nachmittag, oder besser gesagt, sie. Ich bin bis aufs zentrale Nervensystem durchgeweicht und kann meinen Caipirinha, den wir uns am Fluss in der Sonne gönnen, kaum selbst halten. Eva erzählt, dass sie in Teheran geboren wurde, weil ihr Vater dort arbeitete. Sie schwärmt von dem Licht, das sie bis zu ihrem vierten Lebensjahr sehen konnte und dann nicht wieder, nicht in Darmstadt und auch nicht in Dieburg, erst als sie 2021 nach Lissabon kam. Wie sie über das Licht spricht, ist wundervoll. Wir sprechen viel mehr über das Licht als ihren Rollstuhl und alles andere. Ich sage, ich könne das schon verstehen; in Deutschland fühle ich mich immer wie ein Gewerbegebiet an einem Sonntag. Hier in Lissabon ist etwas mit mir passiert. Ich bin geworden, wer ich bin, das ist besser, als geboren werden. Sie lacht und lässt sich hinreißen und sagt, in Dieburg habe sie sich zu Tode gelangweilt. Ein Kaff, das auf Stadt macht, ist ein trauriger Versuch von Freude. Außerdem kann sie sich einfach nicht damit anfreunden, dort begraben zu werden. Die Menschen sind einsam, verbringen viel Zeit mit Möbeln und machen ihre Lebensqualität von der Anzahl der Parkplätze abhängig. Eva und ich verstehen uns prächtig.

Sie ist nicht traurig, dass ihre Füße geschwollen sind und sie nicht gehen kann, sondern froh, dass ihr Kopf einwandfrei funktioniert und sie wieder richtig sehen kann.

Seitdem sehen wir uns immer mal. Ich organisiere ihr eine Tasca, ein Lokal ums Eck, das ihr mittags Essen bringt, aber mehr tue ich nicht. Mehr will ich auch nicht tun. Manchmal, wenn meine Freundin weg ist und ich nicht weiß, wohin, gehe ich bei Eva vorbei, und wir sitzen in ihrer behindertengerechten Erdgeschosswohnung und trinken Kaffee und bemitleiden mich. Ihr tut das gut, über Probleme anderer zu sprechen, und mir, weil es meine sind. Ist doch dumm, der Mensch gewöhnt sich an alles – an das Schlechte, was gut ist, aber auch an das Gute, was schlecht ist. Ich bin also hergelaufen mit meinen Beinen und setze mich an ihren Küchentisch und klage über mein Leben, während Eva auf ihrem Thron sitzt und mich anlächelt, als habe sie noch nie Regen gesehen. Klar, manchmal kommt es auch bei ihr durch, aber weniger die Multiple Sklerose als der Zynismus, den man sich besser aneignet, wenn man viel Zeit auf Ämtern und Behörden verbringt und oft mit Krankenkassen spricht. Aber ihre Sicht auf die Dinge ist ungetrübt. Sie ist nicht traurig, dass ihre Füße geschwollen sind und sie nicht gehen kann, sondern froh, dass ihr Kopf einwandfrei funktioniert und sie wieder richtig sehen kann. Evas Fingernägel sind leuchtrot lackiert, das nur am Rande.

Auch FR7-Autor Konstantin Arnold lebt in Lissabon
Auch FR7-Autor Konstantin Arnold hat sich eines Tages entschieden, nach Portugal zu ziehen. Wie er dort lebt, erzählt er in seinem Buch „Libertin – Briefe aus Lissabon“ (Proof Verlag). © Konstantin Arnold

Seit 1971 hat Eva diese Krankheit, aber erst acht Jahre später diagnostiziert man sie. Sie hat zwei Kinder, war mal verheiratet und hat als Sozialarbeiterin in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet. Ein paar Ehrenämter später gründet sie den Verein „Barrierefreies Dieburg“, und nachdem sie dort alles plattgewalzt und zugänglich gemacht hat, zieht sie in die Barrierehauptstadt Europas, nach Lissabon. Ich sage, wenn sie jetzt hier auch so anfängt und die Steine auf der Burg rundschleift, rede ich nie wieder ein Wort mit ihr. Sie lacht und sagt, das müsse sie gar nicht. Sie findet es wunderschön, dass in Lissabon alles so ist, wie es ist. In Deutschland ist alles nicht so und behindertengerecht und geschlechtsneutral, aber die Barrieren sind in den Köpfen.

In Lissabon gibt es fast keine Rampen, und die Gehwege sind schmal, aber wenn es nicht anders geht, steigt sogar der Straßenbahnfahrer aus, den Eva im Verkehr aufhält, und hilft ihr. Wenn sie vor einer kleinen Stufe steht, rennen neun Menschen auf sie zu und schieben sie hoch. Eva muss nur eine Treppe angucken und die Leute sind da. Wenn sie in ein Lokal will und nicht durch die Tür passt, reißen sie den Rahmen ein. Sie erzählt ein schönes Beispiel, das nichts mit Rollstühlen zu tun hat, aber mit Barrieren. Ihr Sohn sprüht seit einiger Zeit Herzen über Hakenkreuze, die in den Vorstädten manchmal an Hauswände gemalt sind. Dabei hat ihn ein Polizist erwischt und mit Daumen hoch eine Erlaubnis dazu gegeben. Einer seiner Freunde in Deutschland findet das so toll, macht es nach und landet in Untersuchungshaft. Klar klingt die Geschichte etwas kitschig, aber Eva erzählt gerne etwas kitschige Geschichten mit viel Liebe und Detail. Übrigens, sagt sie, die Tasca, die du mir empfohlen hast, hat jetzt extra eine Rampe für mich fertigen lassen.

Die Menschen haben Angst zu scheitern, vor allem im Alter.

Eine Weile sehe ich Eva nur mit wehendem Haar und zwölf Kilometer pro Stunde durch die Straßen an mir vorbeiheizen, in ihrem neuen elektrischen Rollstuhl. Ein Warndreieck hinten dran und 15 geduldige Autos im ersten Gang. Manchmal sehe ich sie auch vom Balkon aus, wie im Film im Park sitzend, vor meinem Haus. Sie sitzt da mit ihrer Portugiesisch-Lehrerin und tut, was man sonst nicht tut: seine Wohnung verkaufen, mit einem neurologischen Gutachten im Gepäck auswandern und Mitte 60 eine neue Sprache lernen. Die meisten schaffen es niemals, ihre kleinen Hürden zu überwinden, schon gar nicht im Alter, obwohl sie nichts haben, was sie hält. Manchen fehle der Mut, meint Eva. Der Mut zu was? In ein anderes Land zu ziehen und eine neue Sprache zu sprechen? Was ist daran mutig? Es ist doch eine Welt, und Menschen sind überall, und sie reden mit Mündern. Ja, klar, sagt Eva, aber die Menschen haben Angst zu scheitern, vor allem im Alter. Wir glauben, nur die Jugend sei zum Scheitern da, das Alter nicht, was sollen nur die anderen alten Leute denken, die auch Angst vorm Scheitern haben?

Als Eva ihren Entschluss fasst, meinen viele, ach Eva, bist du dir auch ganz sicher? Was sollen wir nur ohne dich machen? Dasselbe wie mit mir, sagt Eva dann. Sie lässt all diese Leute zurück, von denen jetzt nur jene übrig sind, die sie regelmäßig besuchen: eine Buchhändlerin und ein Pfarrer, der kurz vor seiner Pension doch noch Kabarettist geworden ist. Sie findet auch gleich eine Wohnung und Vermieter, die sonstwas für Umbauten machen, auf eigene Kosten. Zeichen des Universums.

Mit Eva kann man gut essen und gut trinken.

Natürlich braucht man am Anfang eines Universums dies und das, aber die Stadt gibt einem immer, was man braucht, egal, wer man ist oder was man ist oder woher man gerade kommt, solange man ehrlich zu ihr ist und sich von ihren Gassen und Gässchen erkunden lässt und den Geheimnissen übergibt, die einem als Zufälle getarnt begegneten. Dieser Satz, sagt sie, habe ihr in meinem Buch übrigens sehr gefallen. Außerdem diese Konsequenz. Ich habe einfach kein Verständnis für Menschen, die ihr Leben nicht in die Hand nehmen. Vor allem nach einer Flasche Wein.

Mit Eva kann man gut essen und gut trinken. Ab und an treffen wir uns zum Mittag. Am liebsten gehen wir in die kleine Bauarbeiterbude unten an den Gleisen, „O Taxi“ heißt sie. Mittags ist da die Hölle los, voller Menschen, die ohne Schulabschluss durchs Leben kommen und sich zur Grillhaxe einen Liter Hauswein reinknallen, egal wie heiß und hell es draußen ist. Einmal sehe ich dort einen Mann, der vor einer doppelten Portion Eintopf sitzt, Cozido à Portuguesa, dazu eine Flasche Roten trinkt und dann noch eine und sich zum Bratapfel ein Glas Weinbrand gönnt. Er steht auf und geht zurück an die Arbeit, als ob es gar keinen Bratapfel gäbe und kein Cozido, keine Hitze und keine zwei Liter Wein. So ist dieser Laden also, und wenn Eva und ich mittags reinkommen, springen alle wie wild auf, lassen die Liter und die Haxen stehen und rücken wie Moses ein Meer aus rotweißkariertgedeckten Tischen umher. Dieser Moment hat etwas sehr Heiliges, und es ist immer der gleiche. Ich frage sie, wie das eigentlich sei, wenn sie nach dem Mittag und einer Flasche im Elektrischen nach Hause fährt – sei sie dann nicht auch Verkehrsteilnehmerin? Ja, antwortet sie, theoretisch müsste ich das Ding stehenlassen und nach Hause laufen. Und wie ist es eigentlich mit dem Klo und lange sitzen und dem Wein? Kein Problem, sagt sie, ich trage Windeln. Na herrlich, bestellen wir noch eine.

Ein Rollstuhl steht in der Ecke eines Zimmers
„Alle wollen ihr den Einkauf tragen.“ © Konstantin Arnold

Mittlerweile kennt Eva in der Nachbarschaft jede und jeder. Man kann mit ihr kaum noch vor die Tür. Sie läuft mir den Rang ab mit ihrem wehenden Haar und den bunten Klamotten, mit denen sie da durchs Leben fährt. Alle kennen sie, alle grüßen sie, alle wollen ihr den Einkauf heimtragen. Diese Anteilnahme ist ehrlich. Leid wird im portugiesischen Alltag großgeschrieben. Die Lusitaner sind es gewohnt, traurig und aufgeschnitten und wund durchs Leben zu gehen, davon singt schon der Fado. In Melodien gefasste Minderwertigkeitskomplexe eines stolzen Seefahrerstaates und sein vom Erdbeben gedemütigter Hochglanz. Die Heilung dieses Leidens ist nicht die Heilung, sondern das Leid selbst.

Multiple Sklerose ist wohl auch eine sehr mentale Krankheit.

Mit ihrem portugiesischen Physiotherapeuten sorgt Eva für einen Riesenaufruhr, als sie plötzlich mit ihm in das Café an der Ecke geht. Ja, sie kann plötzlich gehen. Die Leute flippen völlig aus und jubeln aus den Fenstern und denken bestimmt, die Eva, die verarscht uns doch. Ich kann das auch nicht glauben, aber Multiple Sklerose ist wohl auch eine sehr mentale Krankheit, die von der barrierefreien Willensstärke der Betroffenen mitabhängen kann, vom Licht und von der Entfernung zu Dieburg. Bis zu dem Tag, an dem Eva in dieses Café geht, ist sie fünf Jahre nirgendwo hingegangen. Als Mensch, der ständig irgendwohin geht, kann man sich das schwer vorstellen, aber wenn man das sieht, knickt einem das glatt die Knie weg. Eva sagt, das verdanke sie Gabriel, ihrem Therapeuten, und Gabriel meint, nein, das liege nur an ihr. Gleich nach ihrer Ankunft im Sommer beginnen sie die gemeinsame Arbeit. Ziel für ihn ist, dass sie bis zum nächsten Sommer mit ihm ins Café an der Ecke geht, 75 Meter entfernt. Vor Weihnachten sitzen sie da. Heute macht Eva Trizeps-Dips auf Treppenstufen und eine andere Übung an Geländern, die man schwer beschreiben kann. Immer ein Bein die Stufe hoch und wieder runter. Danach sitzt die ehemalige Behindertenbeauftragte der Stadt Dieburg am Miradouro Santo Estêvão mit einem kleinen kalten Bier in der Sonne und legt ihren Blick glücklich geschafft auf den Fluss. Manchmal benutze ich sie selbst als Workout. Sie muss dann ein paar Besorgungen machen, Wein kaufen und Schwein, und ich muss dann das Schwein loswerden und den Wein.

Vor einer guten Woche wird sie ausgeraubt. Sie liegt nach dem Mittag auf der Couch und macht Siesta. Ihre Tür ist angelehnt, damit Leben und Luft und Licht hereinkommen und vielleicht jemand, der etwas brauchen kann. Als sie aufwacht, steht ein Mann vor ihr im Zimmer, der irgendwelche Papiere hält und fragte, wie er ins obere Stockwerk kommt. Eva denkt sich nichts dabei und sagt, aus meiner Wohnung raus, die nächste Tür rechts. Nach einer Weile fällt ihr auf, dass Portemonnaie, Telefon und Pass weg sind. Ist natürlich fürchterlich fies, und der Typ kann einem nur leidtun, aber Arschlöcher fördern immer viele gute Menschen zu Tage. Die ganze Nachbarschaft streitetet sich darum, wer ihr zuerst Geld leihen, Essen kochen und den Typ finden und verprügeln soll. Sogar diese eine doofe Tapasbar, die niemand leiden kann, hilft ihr. Das zeigt, dass Menschen nicht nur doof sind und dass das Leben nicht nur so ist, aber manchmal, und dass man deshalb nicht misstrauisch werden darf. Eva lacht, sie sei lieber ausgeraubt hier als nicht ausgeraubt woanders. Ich wollte die Geschichte von Eva schon lange schreiben, weil ich glaube, dass sie ein Vorbild ist. Ihr Rollstuhl ist dabei nur ein Ausrufezeichen.

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