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Letzte Luft

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Von: Anne Lemhöfer

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"Wenn ich aus Geist, Seele und Körper bestehe, sind zwei davon schon drüben."
"Wenn ich aus Geist, Seele und Körper bestehe, sind zwei davon schon drüben." © dpa

Bis der Atem erlischt: Birgit Vyhnalek begleitet Sterbende.

Ich bin Palliativmedizinerin und begleite Menschen durch die letzte und vorletzte Lebensphase, wie auch immer man diese definiert. Ich besuche sie zu Hause, in einem Hospiz oder im Pflegeheim. Dabei spreche ich mit ihnen, dosiere Schmerzmittel, manchmal bin ich auch einfach nur da.

„Sagen Sie Bescheid, wenn es so weit ist?“, fragen die Angehörigen oft. „So weit“, damit meinen sie den Zeitpunkt, an dem das Sterben beginnt. Dieser Zeitpunkt ist nicht immer exakt auszumachen. Aber es gibt Anzeichen. Viele Menschen wollen dann nichts mehr essen und nichts mehr trinken. Das macht Angst. Es ist aber ganz normal. Sterbende müssen nur wenig trinken. Oft reicht es, ihnen mit ihren Lieblingsgetränken Mund und Lippen zu befeuchten.

In den letzten Tagen vor dem Tod schlafen viele Menschen sehr viel, sind matt, ziehen sich sichtbar in sich zurück. Man sagt nicht umsonst: Er oder sie hat sich zum Sterben hingelegt. Der Körper fährt den Stoffwechsel zurück. Das Gesicht ist sehr blass, oft vor allem um Lippen und Nase herum. Dieses markante „Todesdreieck“ tritt sehr oft auf und ist ein typisches Zeichen für den nahen Tod.

Die letzten Atemzüge sind sehr charakteristisch. Manche Menschen hecheln kurze, harte Luftstöße im Stakkato. Andere sammeln noch einmal alle Kraft, saugen die Luft langsam ein – als wollten sie sich mit einem lauten Seufzer verabschieden. Oft gleicht das Atmen einer Rassel. Immer wieder setzt es aus.

Das Rasseln kommt daher, dass der Sterbende nicht mehr husten und schlucken kann, und dass sich nicht unbedingt zum Atmen notwendige Seitenwege im Rachen mit Schleim füllen. Auch dieses Zeichen, im Volksmund „Todesröcheln“ genannt, ist sehr häufig. Das Atmen durch den Mund trocknet die Schleimhäute aus – feuchtes Abtupfen ist eine kleine Erleichterung. Denn obwohl viele Patientinnen und Patienten in dieser Phase bereits bewusstlos sind, gehe ich davon aus, dass die Sterbenden spüren, wenn sie umsorgt werden. Geborgenheit ist in dieser Phase wichtig, Berührung, die Lieblingsmusik.

Wer solche rasselnden Atemzüge noch nie gehört hat, erschrickt erst einmal. Manche Angehörigen denken, dass der Sterbende erstickt. Das ist nicht der Fall. Das Rasseln ist nicht quälend. Ich habe es schon erlebt, dass ein Patient erstaunt murmelt: „Was rasselt denn da so?“. Das Gehör funktioniert noch sehr lange gut. Die Atempausen werden dann länger, sie dauern manchmal bis zu einer Minute. Es kommt auch vor, dass nach dem vermeintlich letzten Atemzug nach einigen Minuten noch ein allerletzter folgt. Es gibt einen eigenen Ausbildungszweig „Palliative Atemtherapie“. Dabei legen wir den Menschen zum Beispiel eine Hand auf den Brustkorb. Das entspannt.

Manchmal - aber bei weitem nicht so oft wie im Fernsehen - werden in solchen Augenblicken noch letzte, teils ganz bildhafte Gedanken ausgesprochen. Eine Patientin sagte leise: „Wenn ich aus Geist, Seele und Körper bestehe, sind zwei davon schon drüben.“

Einen Menschen bis zu seinem letzten Atemzug zu begleiten ist eindrucksvoll, um nicht zu sagen: erhebend. Es ist ein großer Moment, dabei zu sein, wenn jemand sein Leben aushaucht. Das führt mich aus dem Alltag heraus. Es löst heftige Gefühle aus, bei einem so wichtigen Ereignis präsent zu sein. Ich empfinde dabei auch Dankbarkeit. Geburt und Tod, das sind die beiden Eckpfeiler unserer Existenz.

Viele wollen diesen Moment gemeinsam mit ihrem Ehepartner erleben. Das ist nicht immer möglich. Es kommt vor, dass ein Mensch genau in dem Moment stirbt, wenn gerade niemand sonst im Raum ist.

Ich habe sehr viele Menschen nach dem Tod gesehen. Sie wirkten ausnahmslos friedlich.

Ja, ich bin manchmal traurig, wenn jemand stirbt, der mir sehr sympathisch war. Ich rede viel mit meinen Patienten und trage ihre Geschichten noch lange in mir. Die letzten Tage und Wochen im Leben sind eine kostbare Zeit. Wir können heutzutage viel tun, um Schmerz und Angst zu lindern.

Trotzdem ist es natürlich so, dass Sterben schwer ist. Für jeden. Menschen sterben oft, wie sie gelebt haben. Jemand, der mit vielem hadert, tut sich auch mit dem Sterben schwer. Er kämpft mit dem Tod. Andere, die schon das Leben genommen haben, wie es eben kommt, können auch ihr Sterben annehmen.

Eine junge Frau sagte zu mir: „Warum fragt jeder, wie lang ein Leben war? Sie sollten lieber fragen, wie breit es war.“

Aufgezeichnet von Anne Lemhöfer

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