„An der Hantelbank formt sich der Selfmademan“

Warum quälen wir uns, um schlank und durchtrainiert zu sein? Ein Gespräch mit dem Philosophen Björn Vedder über stahlharte Körper, ihre Rolle im Neoliberalismus und wie wir mit der Akzeptanz überflüssiger Pfunde die Welt verbessern können
Herr Vedder, Sie liefern allen Menschen, die sich jetzt im Frühjahr unbedingt einen muskulösen mageren Körper antrainieren wollen, gute Gründe, es nicht zu tun. Finden Sie es besser, wenn man zu seinen Pfunden steht?
Ich finde, man soll sich den Körper suchen, in dem man sich wohlfühlt. Es kann ja auch großen Spaß machen, sich einen Hardbody anzutrainieren. So geht es mir zumindest - auch wenn ich für ein Sixpack viel zu gerne Bier trinke und Schokolade esse. Wir neigen dazu, unseren Körper wie ein Kleidungsstück zu benutzen, das wir nach einer bestimmten Mode gestalten, um von anderen dafür bewundert zu werden. Der Körper ist jedoch auch ein sehr gutes Instrument, um mit anderen Menschen Beziehungen aufzubauen. Ich schleppe zum Beispiel den ganzen Tag drei Kleinkinder herum, da ist es ganz hilfreich, wenn man was in den Armen hat.
Wie kamen Sie als Philosoph auf die Idee, sich mit Körperformen zu beschäftigen?
Ich habe – wie viele andere auch – mit Beginn der Pandemie mein Homegym eingerichtet und mein Sportprogramm intensiviert. Beim Training habe ich mich gefragt: Was machst du da eigentlich, und warum machst du das? Denn natürlich bin auch ich infiziert von diesem Bild eines makellosen, durchtrainierten Körpers. Ich wollte herausfinden, was mich daran fasziniert, woher das kommt und welche Konsequenzen das für uns als Gesellschaft hat.

Es geht Ihnen also um mehr als um Schönheitsideale. Welche gesellschaftlichen Ursachen sehen Sie für den Fitnesskult unserer Zeit?
Der Prozess der Zivilisation, wie ihn der Philosoph Norbert Elias beschreibt, erfordert, unsere Affekte und den Körper zu kontrollieren, weil wir in immer größeren Zusammenhängen leben. Das wird durch die Einführung von Schamgrenzen durchgesetzt und später durch das bürgerliche Arbeitsethos verstärkt: also Formen der Askese, der Disziplin und der Pflichterfüllung, die uns permanent dazu zwingen, unseren Körper, der eigentlich Leib, Denken und Fühlen in eine Einheit fasst, zu spalten und ihn zu einem harten Fassadenkörper durchzubilden. Max Weber hat das mal „das stahlharte Gehäuse des Kapitalismus“ genannt.
Die Wurzeln liegen also in der Zeit der industriellen Revolution?
Oder noch davor, aber das wirkt bis heute. Wenn meine Tochter jetzt in die Schule kommt, muss sie stillsitzen, Abstand halten, Augen zur Tafel. Und nicht nur bei der Fließbandarbeit muss sich der Körper dem Rhythmus der Maschine unterordnen. Das alles verhärtet und verschließt unseren Körper. Hinzu kommt, dass die Erklärungsmodelle unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die auf Wettbewerb und Marktwirtschaft beruht, auf Theoretiker wie Thomas Hobbes und Adam Smith zurückgehen, die große Fans der klassischen Mechanik von Newton waren. Sie sehen Menschen als Teilchen, die von Kräften bewegt werden, beispielsweise dem Eigeninteresse. Darauf bauen die sozialen und moralischen Vorstellungen auf. Freiheit ist Kraft. Diese Vorstellung zieht sich bis in die ökonomischen und sozialen Theorien des Neoliberalismus: Demnach ist eine Gesellschaft fair und gerecht, wenn sie es ihren Mitgliedern ermöglicht, sich nach ihren eigenen Kräften selbst zu verwirklichen und ihren Interessen zu folgen.
Was bedeutet das für unser Körperbild?
Wir stellen uns Gesellschaft mechanisch vor. Es gibt individuelle Körper, die von Kräften bewegt werden und deren Bewegungen irgendwie koordiniert werden müssen, etwa durch den Markt. Dabei war das Aussehen der individuellen Körper zunächst nicht so wichtig. Das änderte sich Anfang der 1980er, als sich der keynesianischen Wohlfahrtsstaat zum neoliberalen Wettbewerbsstaat wandelte. Nun wurden neue Galionsfiguren gebraucht, die die neoliberalen und neokonservativen Werte dieser Politik propagieren.
Was meinen Sie damit?
Die Blockbuster der Reagan-Zeit, etwa die „Rocky“-Filme, erheben den harten und muskulösen Helden-Körper zum Leitbild. Dieser Körper zeigt, dass der amerikanische Traum noch funktioniert: Wer nur hart genug arbeitet, hat auch Erfolg. Und weil er sich diesen Erfolg selbst verdient hat, muss er seine Früchte auch nicht mit anderen teilen. Daneben gibt es auch eine neokonservative Ideologie: Das Erstarken von Rockys Körper durch unbarmherziges Training spiegelt für die Zuschauer auch das Erstarken des Landes.
Welche Funktion hat dieses Körperbild?
Der Neoliberalismus der 80er Jahre geht mit einer Auflösung, einer Verflüssigung von Solidaritäten einher. Der Staat merkt, dass er den globalen Kräften nichts mehr entgegensetzen kann, zieht sich zurück und liefert seine Bürger diesen Kräften aus. Jeder soll nun für sich selbst verantwortlich sein, das führt zu einer Überforderung. Die Politik verkauft das als Chance: Lasst Rücksicht beiseite! Bewegt euch nach Maßgabe eurer eigenen Kraft, übernehmt selbst die Verantwortung, macht mehr aus euch! In diesem Zusammenhang wird der gestählte Körper zum Sinnbild des harten, starken und durchsetzungsfähigen Menschen, der – wie der ideale neoliberale Staat auch – kein Gramm Fett zu viel hat.
Der Hardbody ist also auch eine Rechtfertigung der Einkommensunterschiede, die immer mehr zunehmen?
Mehr noch: Er feiert die Chancenungleichheit als ein freies Spiel der Kräfte, bei dem sich der Stärkste durchsetzt. Der Hardbody ist ein Symbol dieser Stärke. Wenn du es nicht geschafft hast, liegt es eben an dir, dann hast du nicht hart genug gearbeitet.
Und wer einen dicken Bauch hat, gehört zu den Schwachen. Deswegen gilt Marathonlauf ja inzwischen als typisches Hobby in Führungsetagen.
Ja, ein Freund von mir, ein früherer Profiläufer, ist Manager. Er hat mir erzählt, dass er noch nie jemanden eingestellt hat, der übergewichtig ist, weil er findet, dass diese Menschen keinen Biss und keine Disziplin haben. Der Körper spielt auch deswegen solch eine große Rolle, weil man andere Eigenschaften wie etwa Intelligenz oder Kreativität nicht gleich erkennt. Aber ob Sie dick oder dünn, schlaff oder trainiert sind, sieht Ihnen auf der Straße jeder an.
Viele investieren daher große Mühe in ihre muskulöse Statur. Der daraus resultierende Fitnesskult ist für manche zur Ersatzreligion geworden.
Das stimmt, ich bin ja selbst Kunde bei einem amerikanischen Fitnessstudio, mit dem ich über eine App trainiere. Die Anbieter sagen das auch ganz offen: Meine Gym ist die neue Kirche. Menschen kommen zusammen, um an sich selbst zu arbeiten. Das gibt ihnen ein Gemeinschaftsgefühl. Um im Leben Erfolg zu haben, musst du stark sein. Dafür musst du glauben, dass du stark bist. Diesen Glauben findest du im Gym. Auf der Hantelbank formt sich der Selfmademan und beweist die Stärke, die ihn im Leben weiterbringt.
Welche Rolle spielen Soziale Medien für dieses Körperideal?
Die Verbreitung des Hardbodys als ein sichtbares Symbol geht mit der Entwicklung der Medien einher. Das erste Fitnessvideo mit Jane Fonda wird in den 80er Jahren so erfolgreich, weil es auf Videokassetten die Haushalte erreicht. Das war der Anfang der Fitnessindustrie. Inzwischen sind Soziale Medien voll von Fitnessmodells und durchtrainierten Schauspielern, die nicht nur ihre Körper vorführen, sondern auch Trainingstipps geben und damit den Hardbody weiter verbreiten. Und diese Plattformen geben wiederum jedem die Möglichkeit, seine Trainingserfolge zu teilen und Erfolgsfotos zu präsentieren. Wir tragen den trainierten Körper wie eine zweite Haut. Das ist ebenso narzisstisch wie die Strukturen solcher Plattformen.
Trotz solcher Ideale steigt der Anteil der Fettleibigen stetig an, in den USA liegt er mittlerweile bei rund 70 Prozent. Sehen Sie das als Anzeichen für stilles Aufbegehren gegen dieses kapitalistische Körperregime?
Nein, ein Aufbegehren würde nicht bedeuten, einfach dick zu werden, sondern müsste damit einhergehen, sich anderen zu öffnen und auf sie zu antworten. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass sich mit dem Aufblähen der Körper auch eine Öffnung der sozialen Beziehungen einstellt. Paradoxerweise ist es ja so, dass die Menschen zwar immer dicker werden, gleichzeitig aber immer stärker versuchen, dem Ideal des Hardbody zu entsprechen. Der allergrößte Teil der Deutschen ist entweder Mitglied in einem Fitnessstudio oder nutzt eine Fitnessapp zu Hause. Und wer es trotzdem nicht schafft, dem idealen Körperbild zu entsprechen, leidet. Er fühlt sich durch seine Unzulänglichkeit beschämt, ohne dass irgendjemand ein böses Wort zu sagen braucht. Denn er ist mit seinem Körper ihren Blicken ja permanent ausgesetzt, er fragt sich, wie die anderen ihn sehen, und er beantwortet diese Frage vor dem Hintergrund der herrschenden Schönheitsideale. Durch die Abwertung, die er dabei fühlt, wird ihm eine Form von sozialer Teilhabe verweigert. Wenn wir eine sozialere Gesellschaft wollen, brauchen wir also ein anderes Körperbild.

Wie könnte das aussehen?
Das andere Körperbild ist der Softbody, der weiche, offene und responsive Körper, samt seiner biologischen Funktionen, die ihn in den Kreislauf der Natur integrieren. Ein ästhetisches Vorbild dafür könnte der groteske Körper der mittelalterlichen-frühneuzeitlichen Kunst sein, der sich in die Umwelt entgrenzt, alles verstoffwechselt, ständig aufnimmt und ausscheidet, befruchtet wird und gebärt. Er ist auch das Symbol einer mitfühlenden Gemeinschaft aller Lebewesen, einer allgemeinen Sympathie. Und wenn wir uns anschauen, wie wir wirklich leben, dann sehen wir, dass diese Allverbundenheit, für die der Softbody steht, dem viel besser entspricht als die Vorstellung atomarer Kugeln, denn wir sind in ein Beziehungsgeflecht eingebunden und voneinander abhängig. Das hat uns Corona ja jetzt nochmal deutlich gezeigt.
Der Hardbody verhindert also solche Verbundenheit, auch die zur Natur?
Er ist ein Körper, der aus dem Kreislauf der Natur herausgenommen wird. Wir werden geboren, wachsen und dann verfallen wir wieder zur Materie. Der Hardbody versucht, diese Auflösung aufzuhalten, indem er den Körper permanent neu mit Energie auflädt: Jeder Konditionslauf, jedes Gewichtheben, jede Yogastunde dient dazu, den Körper in Spannung zu halten, damit er nicht zerfällt.
Dieser Kampf ist aussichtslos. Früher oder später werden Schwäche und Erschlaffung siegen. Wie schafft man es, sich diesem Prozess gelassen zu stellen?
Aufhören zu kämpfen. Abbauen und gehenlassen. Die Anerkenntnis des Unvermeidlichen. Wir können uns noch so stark und spannungsvoll immer wieder aufladen. Irgendwann zerfallen wir alle zu Humus. Diese Regression anzuerkennen, kann auch etwas Schönes haben und befreiend sein.
Sie arbeiten selbst sehr diszipliniert an Ihrem Hardbody und gegen das Altern. Warum unterwerfen Sie sich freiwillig dem Körperregime und schinden sich?
Für mich ist das Training ein toller Ausgleich zur Arbeit am Schreibtisch. Ich kann unter der körperlichen Anstrengung andere Gefühle und Affekte ausleben als im Alltag. In meiner Arbeit muss ich möglichst rational und diszipliniert sein, als Familienvater sind soziale emphatische Eigenschaften gefragt, aber ich habe dennoch ein Potenzial an Aggressionen, die ich sehr gut beim Sport abbauen kann. Wenn ich jedoch wirklich einen Hardbody haben wollte, müsste ich mich einer ganz strengen und freudlosen Form von Diät unterziehen. Das kommt für mich aber nicht in Frage, weil mir essen viel zu viel Spaß macht: Trainieren ist Silber, Essen ist Gold.
Sport ist also nicht per se schädlich.
Überhaupt nicht. Im Gegenteil, gerade das Training kann ein Schritt weg vom Hardbody sein, wenn wir es nicht primär mit dem Ziel der Selbstdarstellung betreiben. Wenn wir uns auf das einlassen, was dabei mit uns und unserem Körper geschieht, können wir die Einheit von Körper und Geist im Leib wiederfinden, die unsere Kultur mit der Erschaffung des Hardbody aufgespalten hat.
Sehen Sie Ansätze, dass sich das Körperbild ändert und solidarischer wird?
Die Body-Positivity-Bewegung, die sich für die Abschaffung unrealistischer Schönheitsideale und die Akzeptanz aller Körper unabhängig von ihrem Aussehen einsetzt, stimmt mich da optimistisch. Sie will ja darauf hinwirken, dass sich alle Menschen, auch wenn sie nicht dem gesellschaftlichen Ideal entsprechen, schön finden können, egal, ob sie fünf oder 50 Prozent Körperfett haben, ob sie klein oder groß sind, lange oder kurze Beine haben. Wir alle wollen uns schön finden und unserer Liebe zu uns selbst frönen können. Uns das zu ermöglichen, ohne andere daran zu hindern, gehört, wie Rousseau gezeigt hat, zu den Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft. Damit ist es aber nicht getan. Wir müssen über unser Körperbild eine Form von Solidarität und Gemeinschaft zurückgewinnen, die wir durch das Hardbody-Ideal verloren haben.
Muss sich erst die Gesellschaft ändern, damit sich das Körperbild wandelt?
Es ist nicht nur die Gesellschaft, die die Körper prägt, auch die Körper prägen die Gesellschaft. Wenn wir unser Körperbild ändern, verändern wir also auch die Gesellschaft. Wenn wir mehr Körper zeigen, wie sie wirklich aussehen, wird der Hardbody massiv eingeschränkt. Wenn wir uns nicht mehr als abgeschlossene Körper, sondern offen, zugewandt und mit anderen verbunden empfinden, verändert das unseren Umgang miteinander.
Sollten wir den Hardbody ächten?
Nein. Es gibt ja durchaus Formen der Körperkontrolle, an denen wir festhalten müssen, weil sie für das Zusammenleben notwendig sind. Aber ich glaube, wir sollten stärker darüber sprechen, was eigentlich hinter dem Hardbody steckt, ihn von der sozialen und ökonomischen Ideologie befreien, für die er steht, und ihn einfach als Körper akzeptieren: gleichberechtigt zu allen anderen möglichen Körpern auch. Wir brauchen gerade kein neues Schönheitsideal.
Die meisten finden einen gut trainierten Körper attraktiv. Wie kann man sich von solchen Bildern freimachen?
Indem man sich fragt, worin die Freude im Zusammensein mit einem anderen Menschen und seinem Körper liegen. Was ist es, was den anderen Körper für mich liebenswert macht? Was macht meinen Körper für andere liebenswert? Dann ist die Frage, wie der Körper aussieht, viel unwichtiger als das, was er tut und wie er sich anfühlt. Unsere Körper stiften Beziehungen, wenn wir etwas gemeinsam erleben. Das gegenseitige Anschauen kann nur ein Begehren dafür wecken. Der Hardbody ist aber wie eine zweite Haut oder ein Körper aus Glas. Er provoziert das Begehren des anderen, antwortet jedoch nicht darauf, sondern lässt es an seiner spiegelglatten Oberfläche abprallen. Die Filter, die wir über die Bilder unserer Hardbodys in den Sozialen Medien legen, machen diese Beschichtung des Körpers anschaulich. Damit ist die Gefahr verbunden, dass sich zwei Hardbodys in wechselseitiger Selbstbespiegelung verfangen. Jeder will vom anderen begehrt werden, ohne das Begehren zu erwidern. Ein narzisstischer Prozess der wechselseitigen Kastration, eine frustrierende Sackgasse in die Einsamkeit.
Hardbodys sind also nicht zu beneiden.
Nein. Sie sind durch den Drang, sich gegen den anderen durchzusetzen, anstatt mit ihm zu kooperieren, sozial isoliert, und sie sind aus dem Kreislauf der Natur ausgeschlossen. Hardbodys versuchen, nicht zu sterben, sind dafür aber gezwungen, alleine zu leben.