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Unvergesslich, auch ein knappes Jahr danach: Das Märchen von Sevilla

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Von: Thomas Kilchenstein

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Kann man sich immer wieder ansehen: die Siegermannschaft von Sevilla am 18. Mai 2022, kurz vor Mitternacht.
Kann man sich immer wieder ansehen: die Siegermannschaft von Sevilla am 18. Mai 2022, kurz vor Mitternacht. © IMAGO/Revierfoto

An diesem Donnerstag jährt sich der Triumph im Europapokalfinale, der Eintracht Frankfurt in eine andere Umlaufbahn katapultiert hat.

Es ist eine Weile her, dass Ajdin Hrustic zuletzt Fußball gespielt hat. Zu Beginn des Jahres 2023 kickte er vier Minuten, Hellas Verona gegen den FC Turin, Spuren hinterließ er keine, 1:1 endete die Partie, ach ja: Hrustic spielte im Dress von Hellas Verona, sechs Einsätze insgesamt, keinen über 90 Minuten. Danach hat er sich einer Operation am Knöchel unterziehen müssen, das Sprunggelenk schmerzte schon eine Weile. Seitdem: Reha und die Hoffnung, wieder zurückzukehren auf den Rasen.

Wer war jetzt nochmal schnell Ajdin Hrustic?

Der Australier mit bosnischen Wurzeln, 26, war einer der Helden von Sevilla, als Eintracht Frankfurt erstmals nach 42 Jahren wieder den Europapokal gewann. Der Triumph im Finale gegen die Glasgow Rangers, der Sieg für die Ewigkeit, „besser als Sex“ (Präsident Peter Fischer), jährt sich am morgigen Donnerstag, der 18. Mai 2022 wird für immer in die Vereinsannalen eingehen, es ist der größte Erfolg des Klubs seit dem Uefa-Cup-Sieg 1980, größer noch als die Deutsche Meisterschaft (1959), das Landesmeisterfinale gegen Real Madrid (1960) oder gar das Trauma von Rostock (1992), als der sichere Meistertitel vergeigt wurde. Die Gala von Sevilla hat Eintracht Frankfurt in eine andere Umlaufbahn geschossen, hat den Klub in bis dahin ungeahnte Sphären katapultiert, finanziell, ideell, sportlich. Und so lange hat noch keine Autofahrt vom Flughafen bis zum Römer gedauert wie an jenem Tag danach, als sich der Eintracht-Konvoy trotz strömenden Regens durch die von vielen Zehntausenden Menschen gesäumten Straßen einen Weg bahnen musste.

Und Ajdin Hrustic, ein Ergänzungsspieler, der in der gerade abgelaufenen Bundesligarunde 23 Mal zum Einsatz kam, aber keine rechte Rolle spielte, dieser Ajdin Hrustic sollte einer der tragenden Figuren dieses Finales werden, auch das ist eine bemerkenswerte Facette der „bestia blanca“- dazu reichte ihm ein Schuss. Der Linksfuß war erst in der Verlängerung, 106. Minute, eingewechselt worden, es roch schon da - nach den Toren von Joe Aribo (57.) und Rafael Borré (69.) - stark nach Elfmeterschießen, allerdings musste Kevin Trapp kurz vor Ultimo noch mal schnell seinen Klub retten, mit einer Weltklasseparade gegen den frei vor seinem Tor auftauchenden Ryan Kent. Ohne diesen unfassbaren Reflex hätte man das schöne Märchen nicht erzählen können, hätte es kein Happy End gegeben, keinen Triumphzug durch Frankfurt, keinen 15 Kilogramm schweren Pokal ohne Henkel, kein fröhliches Gelage des Trainers mit Strohhut im Bierkönig auf Malle, allenfalls Frustsaufen mit Hinti, keine Champions League, womöglich auch keinen Mario Götze in Frankfurt. Selten lagen zwischen Himmel und Hölle so wenige Zentimeter, es hätte leicht alles anders kommen können. Doch offenbar war Eintracht Frankfurt an der Reihe, wer auch immer dies entschieden haben mag.

„Wir üben keine Elfmeter, wir schaffen das in der regulären Spielzeit“ - so lautete die Standardantwort auf die Frage, ob man für die K.o.-Spiele speziell Elfmeter trainieren würden. Das klang selbstbewusst, stimmte aber nur halb: Natürlich übte die Mannschaft, nach jeder Einheit legten sie sich die Kugel auf den Punkt. Und Oliver Glasner schaute feixend zu. Deshalb war ihm vor dem Shootout im gnadenlos aufgeheizten Estadio Ramon Sanchez Pizjuan nicht bange. Die Schützen waren schnell klar, selbst Makoto Hasebe, der nach einer Stunde ins Spiel kam und allein durch seine Präsenz nicht nur den verletzt Daumen drückenden Martin Hinteregger zutiefst beruhigte, hätte geschossen, doch Daichi Kamada war schneller. Er schieße, sagte er unmissverständlich.

Christopher Lenz war der erste Schütze, er traf zum 1:1. Dann trat Ajdin Hrustic an, auch er blieb eiskalt. Beide Spieler zählten nicht zur Stammformation, kamen allenfalls als Ergänzungsspieler, wenn überhaupt, ins Team. Aber dass auch diese beiden zur Stelle waren, als es darauf ankam, zeigte Spirit und Geist dieser Klasse von 2022. Dass jeder wichtig ist. Und dieses einmalige Erlebnis wird diese Mannschaft für immer verbinden, einerlei ob Filip Kostic und Ajdin Hrustic in Italien spielen oder Goncalo Paciencia in Spanien oder Hasebe noch mit 45.

Daichi Kamadas Schuss streifte den Pfosten, sauste aber ins Netz, dann wehrte Kevin Trapp einen Elfer von Aaron Ramsey mit dem linken Fuß ab, Filip Kostic traf gewohnt sicher, er hatte schon beim 3:2-Sensationssieg in Barcelona cool verwandelt. Und dann, ja dann schritt Rafael Borré zur Tat, und hämmerte den Ball ohne mit der Wimper zu zucken unters Tordach. Entschlossener kann man nicht schießen. Witzigerweise war Oliver Glasner beim Kolumbianer als einzigem Schützen ein klein bisschen unsicher, Borré hatte im Achtelfinale bei Betis Sevilla (2:1) einen Strafstoß arg uninspiriert vergeben. Dann war es geschafft, 5:4, der Jubel kannte keine Grenzen und ein Diver musste sein, damals war er angemessen.

„Wenn du mit einer Mannschaft wie Eintracht Frankfurt im Europa-League-Finale stehst, kommst du nicht nur über die individuelle Qualität. Teamgeist ist das Schlüsselelement, das uns so weit getragen hat“, hatte Kapitän Sebastian Rode, der im Finale tapfer mit einer schnell getackerten Platzwunde am Kopf spielte, vorher das Erfolgsgeheimnis genannt. Und die Frankfurter, die an der Europapokalsaison mit 13 Spielen ohne Niederlage 25 Millionen Euro verdient hatten und es als „Ehre“ empfanden, gegen Glasgow Rangers gespielt zu haben, gehen seitdem als leuchtendes Vorbild für andere Klubs durch: Sie haben gezeigt, dass man über sich hinauswachsen kann, wenn eine Mannschaft, ein Verein, eine Stadt, ja eine ganze Region zusammenhalten. Eine Symbiose, die Berge versetzt – und zu einem großen Titel führt.

Und bestimmt war es auch gut, dass ausgerechnet Aaron Ramsey seinen Elfer verballert hat. Denn der Waliser, inzwischen bei OGC Nizza, wird mit einem Phänomen in Verbindung gebracht, demzufolge nach einem seiner Treffer wenige Tage später eine berühmte Persönlichkeit stirbt, dem sogenannten „Ramsey Effect“. Tatsächlich sind nach Toren von ihm kurz darauf Osama bin Laden, Steve Jobs, Gaddafi, Whitney Houston, Alan Rickman oder David Bowie gestorben. Merkwürdig.

Jesper Lindström, der 15 Kilogramm schwere Pott und viele glückliche Frankfurter Fans.
Jesper Lindström, der 15 Kilogramm schwere Pott und viele glückliche Frankfurter Fans. © IMAGO/Moritz Müller

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