Persönliche Ansichten aus der Sportredaktion

In der FR-Sportredaktion erzählen die Autoren ihre persönlichen Ansichten und Erinnerungen zu dem Abstiegsgipfel in Bremen.
Von Jan Christian Müller, Ingo Durstewitz, Thomas Kilchenstein, Frank Hellmann
In der FR-Sportredaktion erzählen die Autoren ihre persönlichen Ansichten und Erinnerungen zu dem Abstiegsgipfel in Bremen.
Niemals wegziehen Es war der Sommer 1979, als ich mit meinen Eltern und meinen Brüdern aus Bremen wegziehen musste. Mein Vater war versetzt worden, und Bremen war plötzlich weit weg. Es war eine furchtbar schwierige Zeit für einen 15-Jährigen, der seine erste Freundin zurücklassen musste – und Werder. Ich war dort Balljunge in einem hellblauen Puma-Trainingsanzug, meine Freunde haben mich ein bisschen beneidet, und ich war stolz drauf, habe dort in der Jugend auf den Plätzen direkt hinterm Weserstadion gespielt, und wenn die Profis drinnen ein Tor gemacht haben, haben wir Knirpse während unserer Spiele mitten im Angriff gejubelt. Unser Trainer ist fast verrückt geworden.
Jedenfalls war dann der schlimmste Tag in der neuen Stadt der, als Werder im Mai 1980 drei Spieltage vor Schluss schon so gut wie abgestiegen war. Ich hab das damals über Mittelwelle im Radio gehört, Radio Bremen, Werder führte in Frankfurt schon 2:0 durch Tore von meinen Lieblingsspielern Jürgen Röber und Werner Dreßel, aber dann hat die Eintracht die Partie durch Nachtweih, Künast und Peukert noch auf 3:2 gedreht. Eine Woche später gab’s ein 0:5 gegen den 1. FC Köln, das war’s dann endgültig. Damals hab ich arg gelitten, ich weiß es noch genau: Hab’ mich am Nachmittag bei Sonnenschein ins Bett gelegt. So traurig war ich. Und hab mir dann irgendwann gedacht, na klar, seit ich 1963 in Bremen geboren bin und in Bremen wohnte, war Werder in der Bundesliga. Wir hätten niemals wegziehen dürfen. (Jan Christian Müller)
Luis darf nicht Der kleine Luis hat es nicht leicht. Luis, mein Sohnemann, acht Jahre jung, ist ein Frankfurter Junge, direkt am Main geboren, genau wie der Papa. Luis liebt Fußball, er fand die Bayern früher – psst – mal ganz gut, „weil die ja immer gewinnen“, wie er sagte. Dann haben ihm seine beiden großen Cousins gesagt, dass man als Frankfurter Bub die Bayern nicht gut finde. Seitdem findet er die Bayern blöd. Luis spielt in der F-Jugend, im Sturm, gute linke Klebe, kann man so sagen. Er kickt in Worfelden, denn die Frankfurter Jungs wohnen nicht mehr in Frankfurt.
Worfelden liegt, mal grob gesagt, zwischen Frankfurt und Darmstadt, doch Luis mag die Lilien nicht, nicht mehr, gibt zu viele Darmstadt-Fans in Worfelden. Luis ist aber Frankfurter. Mag den FSV und die Eintracht. Zur Eintracht darf er aber nicht mehr ins Stadion. Weil meine Schwester und er eigentlich immer live vor Ort waren, wenn die Eintracht nicht gewonnen hat: gegen Hamburg, Schalke, Ingolstadt, Hoffenheim. Das war zu viel des Schlechten. Irgendwann reichte es. Also nicht Luis, aber meiner Schwester. Die beiden wollten ja keine Pechbringer sein.
Wobei: Einmal sahen sie einen Sieg, 1:0 gegen Schlusslicht Hannover. Hat Luis so sehr beeindruckt, dass er danach flüsterte: „Papa, ich glaube, die Eintracht steigt ab.“ Papa konnte nicht widersprechen. Und dann? Das 2:1 gegen Mainz, das 1:0 gegen Dortmund? Na ja, hat er zu Hause mit Opa im Fernsehen geguckt. War auch okay. Das Bremen-Spiel wird er ebenfalls mit Opa schauen. Werder ist Luis eigentlich egal, aber den Pizarro mag er. „Auf den müssen sie aufpassen.“ Denn, klaro: „Die Eintracht soll nicht absteigen.“ Am Sonntag will er dann zum FSV. Da darf er noch hin. (Ingo Durstewitz)
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Schmetterling im Bart Manche glauben zum Beispiel ernsthaft, dass Eintracht Frankfurt 1999 deshalb auf so wundersame Weise erstklassig geblieben ist, weil sie just an diesem Tag, wie an den drei Samstagen zuvor, den gleichen Turnschuh anhatten. Oder weil ihnen am Vormittag im Altherren-Spiel ein Tor gelungen war. Oder ein anderer Tritt. Gutes Omen und so. Andere marschieren im Sternmarsch viele Kilometer zu Fuß. Weil es mal was gebracht hat. Wieder andere tragen wochenlang denselben hellblauen Pulli. Oder verbieten dem armen Luis den Stadionbesuch, weil die Eintracht dann verliert. Oder betreten den Rasen nur mit dem linken Fuß. Oder rücken einen Plastikstuhl ganz nah ans Spielfeld. Und rufen Om, zünden Räucherstäbchen an und qualmen Bidis.
Als würde das was bringen. Das ist so, als würde der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen. Was für ein Blödsinn. Humbug. Scharlatanerie. Viele meinen, weil eine Elf vor 17 Jahren zufälligerweise vier Spiele hintereinander gewonnen hat, müsste das jetzt wieder so sein. Und hängen einem Norweger mit dicken Oberschenkeln verzückt an den Lippen. Ganz besonders Verrückte lassen sich, super-originell, einen Bart stehen, weil sie einmal die Rasur vergessen haben und abends gewann ihre Eintracht. Toll. Und jetzt sprießt es grau und borstig und ungehemmt übers ganze Gesicht.
Der kommt erst runter nach der ersten Niederlage, nuschelt man in den immer dichter wuchernden Bart, drei Siege ist das jetzt her. Siehst bald aus wie der Taliban, hört man spaßen, bald ist Sommer, wie willste das aushalten. Tatsächlich ist es nicht die reine Freude, so ein Gesichtspelz, wenn auch die Damenwelt ... nun, ja. Jawoll, jetzt kommt er ab. Dann lieber Räucherstäbchen. Heute morgen wird das Messer angesetzt, nach dem Duschen. Als würden solche Kinkerlitzchen was bringen, womöglich Punkte. In Bremen. Lächerlich. Kinderkram. Sollen sich halt mal anstrengen, die Buben.
Vielleicht, so raunt es bang, und auch nur wenn es keine Umstände mache, nach Möglichkeit, könnte man die Schur, nun ja, eventuell auf die Zeit nach 17.20 Uhr schieben.
Mal sehen. (Thomas Kilchenstein)
Der Held heißt Rost Damals, im Mai 1999, waren Handys noch nicht so weit verbreitet. Und Nachrichten gingen nicht in Sekundenschnelle um die Welt. Aber in Bremen hatte es sich doch schnell herumgesprochen, dass drei Spieltage vor Schluss, in höchster Abstiegsnot, der SV Werder die Reißleine zog. Magath raus. Schaaf rein. Schaaf? Der Trainer, der mich schon mal zu Hause anrief, um sich nach einem Spieler zu erkundigen. Er: Amateurtrainer, ich: Volontär beim „Weser-Kurier“. Und beauftragt mit der Berichterstattung von Platz 11, der Heimat der Amateure. Er und ich also beide Lehrlinge. Die Beförderung hat ihn überrascht. Und mich auch.
Ich bin natürlich ins Stadion, als am Dienstagabend Schalke kam. Werder siegte 1:0. Schaafs Spieler, die damals Torsten Frings, Andreas Herzog oder Dieter Eilts hießen, haben den Klassenerhalt schnell klargemacht. Doch in diesen verrückten Werder-Wochen 1999 passierte noch viel mehr. Bremen stand ja zusätzlich im Pokalfinale. Und ich hatte mit meinen Kumpels eine Karte für Berlin. Werder gegen Bayern. Held wird Frank Rost, der im Elfmeterschießen einen hält und einen verwandelt.
Soll ich noch sagen, dass ich damals selbst als Torwart gespielt habe? In Brinkum. Und über meiner kleinen Wohnung lebte – ja genau: der Werder-Held. Ich bin jahrelang stolz gewesen, dass er mir immer wieder Torwarthandschuhe geschenkt hat. Ich habe mir eingebildet, ich könnte vielleicht damit doch noch Profi werden. Hat nicht geklappt. Aber man durfte damals ja noch träumen. 17 Jahre später hoffe ich nur: Dass Werder in der Relegation drinbleibt. Meinetwegen erst im Elfmeterschießen. Felix Wiedwald muss es dann im Mai 2016 richten. (Frank Hellmann)