1. Startseite
  2. Eintracht

Die Reise ins Märchen

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Thomas Kilchenstein

Kommentare

Der Knaller aus dem Hinspiel: Ansgar Knauff (r.) trifft zum zwischenzeitlichen 1:0 für die Eintracht.
Der Knaller aus dem Hinspiel: Ansgar Knauff (r.) trifft zum zwischenzeitlichen 1:0 für die Eintracht. © AFP

Eintracht Frankfurt will es wirklich wissen und heute beim FC Barcelona ein kleines Wunder vollbringen.

Furchtbar freundlich war der Empfang in Barcelona nicht, 15, 16 Grad, grauer Himmel, den ganzen Tag über fiel leichter Nieselregen, als Eintracht Frankfurt, die Mannschaft, die eine der größten Sensationen der jüngeren Vereinsgeschichte plant, am Mittwochnachmittag gegen 17 Uhr in der katalanischen Metropole angekommen war. Aber das Wetter war natürlich Nebensache, und die Frankfurter Entourage, komplett vertreten, musste ja auch nicht mehr in kurzen Hosen vor die Tür, das Abschlusstraining vor dem großen Spiel hatten sie, wie immer in der Europa League, noch in Frankfurt absolviert. Dann begann das große Abenteuer.

Eigentlich hat es ja schon mit dem Tag der Auslosung begonnen, am 18. März war es, als den Hessen der FC Barcelona ins Körbchen fiel, ein absolutes Traum- und Wunschlos, und seitdem hat dieser Verein die Schlagzahl immens erhöht, er dreht am ganz großen Schwungrad, dieses große Los aus Nyon hat den Blickwinkel verändert. Ein Spiel, nein: ein Pflichtspiel gegen eine der größten Mannschaften des Planeten ist so etwas wie ein Geschenk des Himmels. Es ist eine Chance, sich voller Stolz ins Rampenlicht zu stellen, eine unverhoffte Gelegenheit, sich von seiner Sahneseite zu zeigen. Und das ist, so hat es bislang den Anschein, dem Klub ausnehmend gut gelungen: Allein der erste Auftritt vor einer knappen Woche im Heimspiel gegen die Katalanen, jenes hochverdiente 1:1, hat Eintracht Frankfurt deutschlandweit hohen Respekt eingebracht. Die Art und Weise, wie die Mannschaft, die nun wahrlich in der Liga keine besonders gute Rolle spielt, den Kampf gegen den übermächtigen Gegner angenommen hat, war aller Ehren wert.

Aber für Eintracht Frankfurt sollen diese schnell zu Jahrhundertereignissen hochgejazzten Partien keine einmalige Sache sein: Im Grunde basteln sie seit dem Tag der Auslosung an der Sensation, das fing damit an, dass Trainer Oliver Glasner sein Team nach der Ziehung bat, im Raum zu bleiben, denn schließlich werde danach noch das Halbfinale ausgelost. Man möge sich doch schon mal mit dem nächsten Gegner beschäftigen.

Und das setzte sich auf der Geschäftsstelle, im inneren Zirkel, im Umfeld, in der Stadt, bei den Fans sowieso fort: Bald, so hieß es, entwickelte Eintracht Frankfurt eine Gewissheit, diesen Gegner tatsächlich wuppen zu können. Es herrschte, erzählen Insider gerne, seit der Auslosung im Proficamp im Herzen von Europa eine Stimmung und eine Zuversicht, wie vor dem Pokalfinale 2018, das die Eintracht bekanntlich gegen den ebenso übermächtig scheinenden FC Bayern München mit 3:1 gewonnen hatte. Der Glaube daran, den FC Barcelona tatsächlich aus dem Wettbewerb zu kegeln, ist da. Und er ist echt, nicht aufgesetzt. Vorstand Axel Hellmann hat das bereits im großen FR-Interview gesagt: „Wir spielen nicht gegen Barcelona, um Bella Figura zu machen. Wir planen das Halbfinale. Wir planen kein Ausscheiden. Bei uns herrscht ein Gefühl, dass da Außergewöhnliches passieren kann.“

Tatsächlich ist es so, dass der couragierte Auftritt aus dem Hinspiel das Selbstbewusstsein der Mannschaft noch einmal gestärkt hat: Sie weiß jetzt, dass sie dem FC Barcelona Paroli bieten kann, dass sie den Spaniern wehtun kann, dass sie eine Chance hat, wenn auch eine kleine. In Frankfurt lag ein Sieg im Bereich des Möglichen, Djibril Sow und Jesper Lindström hatten beste Gelegenheiten dazu. Und womöglich ist es auch kein Nachteil, wenn bislang aus Barça-Sicht alles nach Plan läuft: ein Remis auswärts, und zu Hause machen wir es dann klar. Denn weiterhin schweben die in Spanien in anderen Sphären als in der Europa League. Und allein im riesengroßen Camp Nou ist Eintracht Frankfurt auch nicht, 20 000, vielleicht 25 000 Fans, in Weiß gekleidet, haben sich angekündigt.

Ein Weiterkommen gegen das Dreamteam aus Barcelona wäre ein Ereignis aus der Kategorie Märchen, ein Fußballwunder, nicht mehr und nicht weniger. Eintracht Frankfurt würde in eine neue Dimension vordringen, es wäre ein Quantensprung, nicht mit Geld aufzuwiegen - selbst wenn das Erreichen des Halbfinales (gegen den Sieger aus Olympique Lyon gegen West Ham United) zusätzlich mit weiteren und nicht zu verachtenden 2,8 Millionen Euro versüßt wird. Aber ein Weiterkommen wäre allemal ein deutlich vernehmbares Ausrufezeichen, wäre, wie Hellmann sagt, ein „Glockenschlag zum Wachwerden“ nach der zweijährigen Tristesse der Geisterspiele. Ein Weiterkommen könnte die Frankfurter, deren Steigflug vor zwei Jahren durch die enormen Einbußen der Corona-Pandemie radikal ausgebremst wurde, neu durchstarten lassen. Und sich womöglich - über einen Erfolg in der Europa League - in der Champions League wieder vorfinden. „Es wäre“, wie Glasner unlängst sagte, „der kürzeste Weg“, weiterhin in Europa spielen zu dürfen.

Ein Sieg im Jahrhundertspiel würde in die Annalen des Klubs eingehen, würde in einer Reihe stehen mit den die Vereinsidentität prägenden Leuchtturmspielen des Uefa-Cup-Gewinns 1980, dem Drama in Rostock, den Ab- und Aufstiegswundern im Stadtwald, dem Pokalfinale von 2018, Spielen, die sich für immer ins kollektive Gedächtnis einprägt haben. Eintracht Frankfurt hätte ein neues Kapitel im eigenen Geschichtsbuch geschrieben.

Aber das sind Träume, die Realität ist eine andere: Die Wahrscheinlichkeit, dass Camp Nou das Ende einer feinen Dienstreise sein wird, ist hoch. Es wäre nur das Normalste von der Welt - und doch auch ein kleiner Fall ins Nichts. Die Luft wäre raus aus dieser Saison, fünf Spieltage vor Schluss plätscherte diese Runde so einfach und unspektakulär aus. Und Reisen durch Europa wären für wenigstens ein Jahr ausgesetzt.

Zeit, die es zu nutzen gilt: zum Kräfte-Mobilisieren für einen neuen Anlauf.

Auch interessant

Kommentare