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„Der Weidle, der Depp“

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Von: Thomas Kilchenstein

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14. April 1976: Eintracht-Keeper Peter Kunter wirft sich vor Keith Robson in den Matsch, Peter Reichel muss nicht mehr eingreifen. imago images (2)
14. April 1976: Eintracht-Keeper Peter Kunter wirft sich vor Keith Robson in den Matsch, Peter Reichel muss nicht mehr eingreifen. imago images (2) © imago sportfotodienst

Vor 46 Jahren klopfte Eintracht Frankfurt schon einmal gegen West Ham an das Tor zum Europacup-Finale - Ex-Profis erinnern sich an das unglückliche Aus.

Natürlich hat es geregnet in London, kommt öfter vor, auch an diesem 14. April vor 46 Jahren, einem Mittwoch, feiner englischer Landregen. Entsprechend übel sah der Rasen im Boleyn Ground aus, der Upton Park genannten Spielstätte von West Ham United. Wobei das mit dem Rasen so eine Sache war, je länger das Spiel dauerte, umso weniger gab es davon, nicht nur in beiden Strafräumen war das bisschen Gras Lehm, Sand und Matsch gewichen, bald geriet die Partie zu einer einzigen Schlammschlacht. Die gelben Admiral-Trikots der Frankfurter starrten bald vor Dreck, der Ball wurde schwer und immer schwerer, blieb zuweilen stecken im Morast. Dieser bessere Acker war nicht gut für die vielen Edeltechniker im Team mit Jürgen Grabowski, Bernd Hölzenbein oder Bernd Nickel. „Wir haben ständig im Dreck herumgespielt“, erinnert sich Willi Neuberger, heute 76 und damals Libero.

Aber daran allein hat es nicht gelegen, dass Eintracht Frankfurt im April 1976 an den Londonern gescheitert und nach einem 2:1 im Hinspiel im Upton Park 1:3 unterlegen war und eben nicht ins Endspiel einzog gegen den RSC Anderlecht (der übrigens im anderen Halbfinale die BSG Sachsenring Zwickau bezwang). „Der Weidle muss den Ball nur noch reinschieben“, sagt Peter Reichel im Gespräch mit der FR, „der Depp“, schiebt er lachend hinterher. Kurz vor Schluss, die Eintracht hatte ein bemerkenswertes Powerplay in London aufgezogen, hatte Roland Weidle, der Dauerläufer im defensiven Mittelfeld, die ganz große Chance, auf 2:3 zu verkürzen, doch er schoss freistehend an den Pfosten, „im Training macht er den im Schlaf“, sagt auch Neuberger, der einen Tag nach dem 1:3 von West Ham 30 Jahre alt wurde. Ein 2:3 hätte den Frankfurtern gereicht, und Finalgegner Anderlecht, da ist sich Peter Reichel heute noch sicher, „die hätten wir gepackt“. Sie hätten eine richtig gute, gewachsene Mannschaft im Europacup der Pokalsieger zusammen, Liga-Fünfter waren sie im Frühjahr 1976, zweimal hintereinander zudem Pokalsieger. Und auch in dieser Schlacht waren die Frankfurter wahrlich nicht die schlechtere Mannschaft gewesen.

Dabei hatte es denkbar schlecht angefangen: Erst kurz vor dem Anpfiff erreichte die Mannschaft das Stadion. Sie hatte Rushhour und dichten Londoner Verkehr komplett falsch eingeschätzt, 15, 20 Minuten hätte normalerweise die Fahrtzeit betragen sollen vom Hotel, dem Dorchester, eines der besten Hotels der Stadt in vornehmer Park Lane, bis zum Upton Park. Geworden waren es fast zwei Stunden, „wir haben uns im Bus umgezogen“, erzählt Peter Kunter, Toni Hübler hatte die Trikots verteilt. Die Teambesprechung war vorher im Hotel anberaumt worden. Auf der Fahrt im Schritttempo wurde der Kopf des akribischen Tüftlers Dietrich Weise mit jeder Minute des Stillstandes immer roter, im Bus, undenkbar heute, fuhren übrigens auch Journalisten mit, Holger Obermann vom HR beispielsweise. Sehr viel schlechter hätte die Vorbereitung auf ein Halbfinale im Grunde nicht laufen können. „Unser Aufwärmprogramm? Es gab keines“, sagt der spätere Gymnasiallehrer Reichel, der dessen ungeachtet ein überragendes Spiel auf der rechten Seite abgeliefert hatte.

Und doch war es nicht so, dass Eintracht Frankfurt von den Engländern in der ersten Halbzeit überrannt worden wäre. Klar, sie standen schwer unter Druck, kick and rush von West Ham, dazu der Hexenkessel mit 39 202 Fans, der tiefe Boden. „Wir kannten so enge Stadien kaum, in Kaiserslautern vielleicht noch“, erinnert sich Dr. Peter Kunter, „das waren vom Rasen bis zu den Sitzen nur ein paar Schritte“. Gerade hinter seinem Tor war einiges los.

Dass Peter Kunter überhaupt im Kasten der Eintracht stand, wie immer im grünen Pulli, war nicht geplant. Kunter, seinerzeit 34 und mehr in seiner Zahnarztpraxis in Bornheim tätig als auf dem Trainingsplatz, war in seiner letzten Saison bei der Eintracht eigentlich nur noch Standby -Torwart hinter Günter Wienhold. Doch der hatte sich ein paar Wochen zuvor den Knöchel gebrochen, Kunter wurde reaktiviert, „und da hatte ich inzwischen drei Gramm zugenommen“, sagt der als „fliegender Zahnarzt“ bekannt gewordene Ballfänger. Er hat es, trotz wenig Trainings und Flutlichts, richtig gut gemacht in diesem Hexenkessel, er hielt, was es zu halten gab und das war eine Menge. Aber ihn fuchst das hartnäckige Vorurteil, er habe sich als Kontaktlinsenträger bei Abendspielen schwer getan. „Stimmt nicht“, sagt der Torwart, der an diesem Donnerstag, wenn die Eintracht wieder gegen West Ham spielt, seinen 81. Geburtstag feiert. Der „alte Gramlich“, der frühere Präsident Rudi Gramlich, mit Kunter in herzlicher Antipathie verbunden, habe diese Unwahrheit gestreut, um „mir eins auszuwischen“.

Für dieses Halbfinale hatte sich Trainer Dietrich Weise eine ganz besondere Taktik ausgedacht: Weil der vor eineinhalb Jahren verstorbene Coach um die gefährlichen Flanken der Engländer wusste, deren Kopfballstärke und Kunters Schwäche eben bei diesen hohen Hereingaben, weil zudem Vorstopper Karl-Heinz Körbel wegen eines im Hinspiel erlittenen Bruchs des Nasenbeins gehandicapt im direkten Duell gegen körperbetont spielende Briten schien, nominierte er den groß gewachsenen, kräftigen Stürmer Bernd „Jason King“ Lorenz als Vorstopper. Lorenz, der den Spitznamen wegen einer gewissen Ähnlichkeit mit Peter Wyngarde, dem Schauspieler aus der gleichnamigen Fernsehserie weg hatte, machte seine Sache auch gar nicht so schlecht. Aber er konnte die zwei Tore von West Hams Besten, Trevor Brooking, nicht verhindern. Nationalspieler Brooking, der das 1:0 in der 48. köpfte und das 3:0 (77..) nach einem Konter markierte, wurde später für sein soziales Engagement außerhalb des Fußballs von der Queen zum Sir geadelt. Keith Robson (68.) hatte mit einem Traumtor mit links in den Winkel das 2:0 erzielt.

Mit dem 0:3 schien die Entscheidung gefallen, doch das Anschlusstor von Klaus Beverungen (87.) machte neue Hoffnung, die Eintracht drängte mit Macht, doch es sollte nicht reichen, auch weil West Ham-Schlussmann Mervyn Day über sich hinaus gewachsen war. Ohnehin gibt es heute noch einige, Karl-Heinz Körbel etwa, der den vergebenen Chancen und den Fehlentscheidungen des Schweizer Schiedsrichters Walter Hungerbühler nachtrauerten. Er habe ein glasklares Handspiel auf der Torlinie von Keith Coleman nicht geahndet, das 2:0 war aus stark abseitsverdächtiger Position heraus erzielt worden, Hölzenbein, Grabowski und Rüdiger Wenzel hatten beste Gelegenheiten nicht verwertet, West Hams Spielführer Tommy Taylor rettete zudem zweimal auf der Linie.

Da rächte sich auch ein wenig, dass die Eintracht, die zuvor FC Coleraine (5:1, 6:2), Atletico Madrid (2:1, 1:0) und Sturm Graz (2:0, 1:0) aus dem Wettbewerb geworfen hatte, im Hinspiel nur 2:1 gewonnen hatte. Da war seinerzeit viel mehr möglich gewesen, doch nur Willi Neuberger und der junge Wolfgang „Scheppe“ Kraus trafen und drehten die Londoner Führung durch Graham Paddon in einen Sieg. „Wir haben das eine Tor schon in Frankfurt zu wenig geschossen“, lautete das Fazit von Trainer Weise. Und Spielführer Grabowski urteilte nach dem K.o. fair: „Machen wir uns doch nichts vor. Wir haben gegen eine Klassemannschaft verloren, und von einer englischen Fußballmannschaft kann sich bei uns mancher eine Scheibe abschneiden.“

Das Finale in Brüssel verlor West Ham übrigen 2:4 gegen RSC Anderlecht, die Eintracht spielte drei Tage später beim Tabellenelften MSV Duisburg, 1:1.

Aus dem Gleichgewicht gebracht: Billy Jennings zieht im Rückspiel in London an Roland Weidle vorbei.
Aus dem Gleichgewicht gebracht: Billy Jennings zieht im Rückspiel in London an Roland Weidle vorbei. © imago sportfotodienst

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