Der Glaube wächst

Endspiel im Hexenkessel: Eintracht Frankfurt geht gestärkt ins Rückspiel und will am Donnerstag den FC Barcelona aus dem Wettbewerb werfen.
Wer nachfühlen mochte, was am Donnerstagabend im Frankfurter Stadtwald eigentlich passiert ist an Außergewöhnlichem, der muss sich nur einmal die Frage mit Genuss anhören, die nach diesen rassigen, intensiven und guten 90 Minuten dem Frankfurter Trainer Oliver Glasner gestellt wurde. Ob nun die Freude über dieses erstaunliche, hochverdiente 1:1 gegen den FC Barcelona überwiege oder ob doch ein wenig Verdruss mitschwinge, womöglich einen Sieg verpasst zu haben. Der Fußballlehrer schnaufte ganz kurz durch und sagte dann, man verliere „den Boden unter den Füßen“, wenn man nach einem Remis gegen eine der besten Mannschaften Europas so etwas wie Ärger aufkommen lasse. „Es ist wichtig, immer demütig zu bleiben.“
Er könne seinem Team nur gratulieren zu „einer fantastischen Leistung“, zu einer Vorstellung ohne „Wermutstropfen“, denn keiner, nicht einmal Weltmann Xavi und der große FC Barcelona, hätten sich beschweren können, wenn Eintracht Frankfurt in diesem Spiel als Sieger vom Platz gegangen wäre, ein 2:1, 3:1 wäre drin gewesen, 16:7 Torschüsse sagen vieles aus. Gerade nach dem Traumtor von Ansgar Knauff (48. Minute, siehe Bericht unten) hätte kaum eine Minute später Jesper Lindström per Linksschuss das 2:0 erzielen können, die Kugel strich haarscharf über die Latte. Die dickste Chance vergab freilich Djibril Sow schon nach sechs Minuten, aus sieben, acht Metern hätte er die Führung erzielen können, ach was, müssen, er verzog aber knapp. „Wir hatten Barcelona“, so Glasner, „am Rande einer Niederlage.“
Spielführer Kevin Trapp, der im Grunde nur einen schweren Ball hatte abwehren müssen, musste grinsen, als er zu Recht feststellte: „Es ist etwas verrückt, weil wir mit einem 1:1 gegen Barcelona vom Platz gehen und das Gefühl haben, dass mehr drin gewesen wäre.“ Genau dieses Gefühl hatten alle, die 48 000 im pickepackevollen Stadion, und auch die 4,64 Millionen TV-Zuschauer:innen, die RTL einen Rekord und einen Marktanteil von 17,5 Prozent bescherten. Selbst die spanische Presse übertrieb bei ihrer Beurteilung nur leicht: „Barca wurde in Frankfurt regelrecht überrollt, ist aber wie durch ein Wunder lebend davongekommen“, schrieb etwa „AS“. Und das katalanische Fachblatt „Sport“ attestierte dem fünfmaligen Champions-League-Sieger, in Frankfurt ein „goldenes Remis“ erreicht zu haben.
Es war wieder genau das Spiel, das die Eintracht benötigt, um Höchstleistung zu bringen: Ein großer Gegner, gleißendes Flutlicht, bedingungslose Unterstützung, europäischer Anstrich - das sind die Zutaten, die Frankfurter Spieler über sich hinauszuwachsen lassen. Es war ein Spiel wie gemalt für die Hessen, passend auch, dass Barca an diesem Abend, wie Coach Xavi übersetzt wurde, „kein exzellentes Spiel“ zeigte, nur mit dem Ergebnis sei er zufrieden. Dass die Spanier anders können, ließen sie in homöopatischen Dosen aufblitzen, etwa beim 1:1 durch Ferran Torres (66.), als sie mit einem doppelten Doppelpass auf engstem Raum einen Hauch von Zauber versprühten. Da hatte Xavi zuvor aber Frenkie de Jong und Ousmane Dembele gebracht, zwei Weltstars - zum Vergleich: Glasner konterte mit der Einwechslung von Jens Petter Hauge und Ragnar Ache.
Und doch konnten die Gastgeber, die mutig, diszipliniert, aber auch gewohnt nicklig agierten, von sich behaupten, sich auf Augenhöhe mit dem FC Barcelona bewegt zu haben, ja, sie hatten die klareren Chancen. Und wie leidenschaftlich die Eintracht nach der Gelb-Roten Karte für Tuta (78.) ihr Allerheiligstes verteidigte, war erstaunlich. Dass sie fast eine Viertelstunde in Unterzahl spielte, machte sich kaum bemerkbar - selbst in der Schlussphase tauchten urplötzlich fünf Frankfurter im gegnerischen Strafraum auf, „da stand ich kurz vor einer Herzattacke“, sagt Glasner.
Alle wollen nach Barcelona
Das Außergewöhnliche ist aber, dass der Außenseiter, anders als viele jenseits des inneren Zirkels gedacht haben, noch immer im Rennen ist. Man fliege nach Barcelona in der Gewissheit, „noch alle Chancen aufs Weiterkommen“ zu haben, sagte Glasner, genau das war das Ziel: „Wir werden mit der Überzeugung nach Barcelona gehen, dass wir dort gewinnen können.“ Die 2,8 Millionen-Euro-Uefa-Prämie für das Halbfinale (gegen Lyon oder West Ham) ist weiter in greifbarer Nähe, die Ausgangslage gut. „Wer jetzt nicht daran glaubt“, sagte Torhüter Trapp, „ist fehl am Platz“. Er bereite sich nicht auf ein mögliches Elfmeterschießen vor, er gehe davon aus, das Halbfinale nach 90 oder 120 Minuten zu erreichen. Allein wird er nicht sein: 35 000 Anfragen nach Tickets für das Rückspiel seien eingegangen, berichtet Vorstand Axel Hellmann. „Das ist etwas ganz Besonderes. Wir werden unseren Auftritt dort zu einem Fest machen.“
Dazu bedarf es „im Hexenkessel Camp Nou“ (Xavi) mindestens einer Wiederholung der Leistung von Donnerstag, eher werde man „noch eine Schippe drauflegen“ müssen, wie Sportvorstand Markus Krösche sagte. Zuzutrauen ist das dieser Mannschaft, zumal die Eintracht, wie Glasner fast verschämt erwähnte, „auswärts einen Tick besser spielt als zu Hause“. Und eine Niederlage hat es in den neun Europa-League-Spielen bisher nicht gegeben.
Zunächst kehrt der Alltag zurück, der SC Freiburg kommt am Sonntag (17.30 Uhr/Dazn) ins Stadion. Und Glasner ist selbst gespannt, wie sich die Helden „nach dem emotionalen Ausschlag“ schlagen, am Freitag hat der Trainer sie „in Ruhe gelassen“, sie benötigten Zeit, das Erlebte zu verarbeiten. Ob er manch einem Profi eine Pause gibt, verriet der Coach nicht. „Ich rotiere nicht, um jemandem einen Gefallen zu tun.“ Die Elf von Barca könnte beginnen. Eines verspricht Glasner: „Es wird sich keiner schonen.“