Ottilie Roederstein im Städel: Große Künstlerin, ganz privat

Hinter den Kulissen des Städels: Wie das Museumsarchiv dabei hilft, der lange vergessenen Malerin Ottilie Roederstein näher zu kommen.
Die wenigsten Künstlerinnen haben einen Nachbarn wie Hermann Jughenn. Der Bahnbeamte wohnte in Hofheim bei Frankfurt neben der Malerin Ottilie Wilhelmine Roederstein (1859-1937) und deren Lebensgefährtin Elisabeth Winterhalter, einer der ersten Ärztinnen Deutschlands. Jughenn war nicht nur ein großer Bewunderer der Werke Roedersteins, die seit der Jahrhundertwende zu den bekanntesten Künstlerinnen ihrer Zeit gehörte, er war auch eng mit dem Paar befreundet. Jughenn sammelte Reproduktionen der populären Roederstein-Bilder und begann nach deren Tod mit großem Aufwand damit, zusammen mit Winterhalter den Nachlass zu ordnen und ein Verzeichnis der Gemälde zu erstellen. Nach dem Tod Winterhalters 1952 übernahm er viele Erinnerungsstücke aus dem Nachlass der Freundin.
Das Buch, das Jughenn schreiben wollte, ist nie veröffentlicht worden, und nach seinem Tod 1967 landete seine große Sammlung von Dokumenten für Jahrzehnte auf dem Dachboden seines Hofheimer Hauses. „Es sind allein 1800 Fotografien und 1000 Briefe, die erhalten geblieben sind“, sagt Iris Schmeisser, Leiterin des Archivs im Städelschen Kunstinstitut. Dass dieser wertvolle Nachlass im Mai 2019 von der Enkelin Jughenns an das bedeutende Museum, mit dem Ottilie Roederstein einst eng verbunden war, geschenkt wurde, kann als ganz großer Glücksfall bezeichnet werden. Denn erst damit versteht man viele der Bilder und Zeichnungen, weiß, wer dargestellt wurde und warum.
Forscherinnen und Forscher können mit Hilfe des unverhofft erweiterten Museumsarchivs, das für Fachleute zugänglich ist, ganz unterschiedliche Aspekte aus dem Leben einer begabten, selbstbewussten Malerin herausarbeiten. Ottilie Roederstein, die aus dem schweizerischen Zürich stammte, gelang es in einer Zeit, in der dies die absolute Ausnahme war, als freischaffende Künstlerin zu arbeiten und davon gut zu leben. Aktuell sei man noch dabei, die Mappen Jughenns zu ordnen, sagt die Kunsthistorikerin Schmeisser. „Wir haben auch schon einiges digitalisiert, etwa Roedersteins Korrespondenz mit Alexej von Jawlensky.“ Die 49-jährige Museumsarchivarin hat lange in den USA gelebt und kam 2014 ursprünglich als Provenienzforscherin ans Städel und die benachbarte Skulpturensammlung Liebieghaus, das heißt, Schmeisser forschte nach der Herkunft von Kunstwerken aus Museumbesitz. Nicht alles wurde rechtmäßig erworben, auch Museen bereicherten sich am NS-Raubzug und der Enteignung der europäischen Juden. Auch hier kann das Museumsarchiv mit Auktionskatalogen oder Rechnungen wichtige Hinweise auf frühere Besitzerinnen und Besitzer geben. Die Arbeit ist noch lange nicht beendet.
Briefe und Fotos, aber auch Rechnungen, Zeugnisse, Mietverträge für Ateliers oder zeitgenössische Zeitungsartikel zeigen das eindrucksvolle Netzwerk an Kontakten, das Roederstein und ihre nicht weniger interessante Lebensgefährtin Winterhalter Zeit ihres Lebens pflegten. Die Archivbestände des Städels könnten zum Beispiel Aufschluss geben über das Selbstverständnis eines lesbischen Paares im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts oder über künstlerische Beziehungen.
Ottilie W. Roederstein
Ottilie W. Roederstein , 1858 in Zürich geboren, gelang etwas, was wegen der starren gesellschaftlichen Konventionen nur wenige Frauen ihrer Zeit erreichten: Sie absolvierte eine Ausbildung zur Malerin in Zürich, Berlin und Paris, wurde rasch mit ihren Porträts erfolgreich und konnte dank vieler Aufträge gut von ihrer Malerei leben.
Seit 1891 lebten Roederstein und ihre Lebensgefährtin Elisabeth Winterhalter, eine der ersten deutschen Ärztinnen, in Frankfurt. 1909 bauten sie gemeinsam ein Haus in Hofheim, wo beide bis zu ihrem Tod lebten. Roederstein starb 1937, Winterhalter 1952.
Eine aktuelle Ausstellung im Frankfurter Städel zeigt 75 Gemälde und Zeichnungen der Malerin, dazu Fotos, Briefe und weitere Dokumente. Das Städel ist eng mit ihrem Lebenswerk verbunden, in der benachbarten Kunstakademie, der Städelschule, hatte sie ein Atelier und unterrichtete. Ihre „Lesende alte Frau“ war 1902 das erste Werk einer lebenden Künstlerin, das das Museum ankaufte. Winterhalter schenkte dem Städel 1937 zahlreiche Bilder aus dem Nachlass. Trotzdem waren jahrzehntelang nur selten Werke Roedersteins zu sehen, die Künstlerin galt als nahezu vergessen. Das lag sicher auch am geringen Interesse an realistischer Kunst in Westdeutschland nach der NS-Zeit.
Zu sehen ist „Frei Schaffend“ über das Leben Ottilie W. Roedersteins noch bis zum 16. Oktober im Städel, Schaumainkai 63, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags auch bis 21 Uhr geöffnet. aph
Die hervorragend recherchierte Schau, die das Städel und das Kunsthaus Zürich gemeinsam erarbeitet haben, nutzt viele dieser neuen Archivfunde vom Dachboden, etwa die vielen gestochen scharfen, privaten Fotografien des Paares, die oft aus winzigen Vorlagen auf Wandgröße projiziert wurden.
Ein Vergleich mit der unlängst im benachbarten Museum Giersch zu Ende gegangenen Ausstellung über die beiden in der NS-Zeit verfemten Starfotografinnen Carry und Nini Hess drängt sich auf: Ihr Archiv und der Nachlass sind komplett vernichtet, man kennt heute im Gegensatz zu Roederstein und Winterhalter nicht einmal gute Abbildungen der beiden einst berühmten Hess-Schwestern, geschweige denn Briefe, Tagebücher oder ähnliche Selbstzeugnisse.
Viele der von Ottilie Wilhelmine Roederstein Porträtierten waren Prominente, zum Beispiel der langjährige, 1933 von den Nazis verjagte Städel-Direktor Georg Swarzenski, die Kunsthändlerin Hanna Bekker vom Rath oder die Maler Jakob Nussbaum und Alexej von Jawlensky. Daneben schuf die Malerin Landschaften und Stillleben, porträtierte Kinder und Gärtner, malte und zeichnete – das war besonders ungewöhnlich – auch Akte.
Das letzte Mal umfassend zu sehen war ihr Werk 1938 im Frankfurter Kunstverein, ein Jahr nach ihrem Tod in Hofheim, wo sie gemeinsam mit Elisabeth Winterhalter auf dem dortigen Waldfriedhof begraben liegt.